Trotz der klirrenden Kälte pilgern über 10.000 Besucher nach Hinterzarten, um sich das Spektakel anzusehen.

Tollkühne Piloten im Eiskanal

10.000 Zuschauer pilgern nach Hinterzarten
01.11.2014

von Birgit-Cathrin Duval

Sie war ebenso legendär wie gefürchtet: Im Winter 1954 heizten die tollkühnsten Bob-Piloten über den steilsten und schnellsten Eiskanal Deutschlands – der Kesslerbahn in Hinterzarten. Sie war Austragungsort der ersten südwestdeutschen Zweier-Bob-Meisterschaften. Am 31. Januar, es war ein klirrend kalter Sonntag, pilgerten mehr als 10.000 Zuschauer zur Eisbahn außerhalb des Ortes. Dabei kam es zu einem folgenschweren Unfall: der Bob des Olympiasiegers „Anderl“ Ostler schleuderte aus der Kurve und raste in die Zuschauermenge.

Es ist ein sonniger Freitagmorgen im April 2015. Auf den Bergen schmelzen die Schneereste des vergangenen Winters, in den Hochtälern zeigen sich erste Frühlingsboten. Die urige Stube des Hinterzartener Skimuseums füllt sich. Neun Männer sind zum Treffen der Bobbahn-Veteranen gekommen. Hände werden geschüttelt, Fotos betrachtet, Erinnerungen ausgetauscht. Auf den Bildern sind sie jung und kräftig, mit Schaufeln in Händen und Zigaretten im Mundwinkel. Heute, über 61 Jahre später, sind sie noch immer stolz, damals dabei gewesen zu sein, als in Hinterzarten Bob-Geschichte geschrieben wurde.

Extrem gefährlich und schwer zu fahren

Hinterzarten ist vor allem wegen seines Skispringens bekannt. Doch was heute kaum noch jemand weiß: Im Winter 1953/1954 drehte sich alles um den Bobsport. Die wintersportverrückten Hinterzartener bauten die Bobbahn komplett von Hand – mit Pickel, Schaufel, Schnee und Wasser. Doch es war nicht irgendeine Bobbahn: Die Rennstrecke war wegen ihrer engen Kurven und der steilen Lage extrem gefährlich und schwer zu fahren.

Für die Steilwände der Bobbahn werden Schneeblöcke zurechtgeschnitten und wie bei einem Iglu aufeinander geschichtet.
Für die Steilwände der Bobbahn werden Schneeblöcke zurechtgeschnitten und wie bei einem Iglu aufeinander geschichtet. © Staatsarchiv Freiburg

Dass es damals überhaupt zum ersten großen Bobrennen im Schwarzwald kam, ist einer launigen Stammtischrunde zuzuschreiben, die sich 1951 im Gasthaus „Adler“ traf. Es waren die Stammtischbrüder um Adlerwirt Oskar Riesterer, Zahnarzt Conny Zähringer, Dorfarzt Karl Uhlmann und Dr. Nass-Kolb, Blechnermeister Hubert Baumstark sowie der Förster und Pilot, Oskar Hercher. Weil es in Triberg einen Verein gab, wollten die Hinterzarter ihren eigenen Bobclub aufziehen. Am 23. Oktober 1953 wurde der „Bob- und Schlitten-Club Hinterzarten“ gegründet. Bereits einen Monat später begannen die Clubmitglieder mit den Plänen zum Bau der Eisbahn. Dazu holten sich die Hinterzarter Experten aus St. Moritz und Bayern, die die Bahn absteckten: 1000 Meter lang, neun Kurven mit einem Gefälle von bis zu 18 Prozent.

„Wir haben Wasser in einen Holzbottich geleitet, das mit Schnee vermischt wurde“, berichtet einer der Bobbahn-Veteranen.
„Wir haben Wasser in einen Holzbottich geleitet, das mit Schnee vermischt wurde“, berichtet einer der Bobbahn-Veteranen. © Staatsarchiv Freiburg

Damit würde die Kesslerbahn die damals steilste Bobbahn Deutschlands werden. Doch um ein Haar wäre das Jahrhundertprojekt niemals zustande gekommen, denn der wichtigste Baustoff fehlte: Im Dezember 1953 war von Schnee weit und breit nichts zu sehen.

Im Januar kann der Club aufatmen: Endlich schneit es heftig, dann wird es richtig kalt. Beste Bedingungen zum Bau der Eisbahn. Jetzt drängt die Zeit, denn Ende des Monats soll das große Rennen stattfinden, für das überall groß geworben wird. Geplant ist eine echte Naturbahn, und die muss von Hand in den Hang gebaut werden.

Der Arzt vergisst seinen Patienten auf dem Behandlungsstuhl

Alles was Muskeln hat und Schaufel oder Pickel in der Hand halten kann, wird einberufen. Die Bobbahn-Veteranen, damals alle Anfang 20, melden sich sofort. „Es gab ein Taschengeld, außerdem Vesper vom ‚Adler’“, erzählt Karl Steiert. Dafür müssen die Jungs hart anpacken. Auch Studenten aus Freiburg sind beim Bau des Eiskanals beteiligt. Hauptinitiator Zahnarzt Conny Zähringer ist derart involviert, dass er bei einer eiligst einberufenen Sitzung seinen Patienten auf dem Behandlungsstuhl vergisst. Darüber wurde in Hinterzarten noch viele Jahre später gelacht.

Am Wettkampftag zeigt das Thermometer minus 20 Grad. Der Eiskanal ist spiegelglatt und extrem hart.
Am Wettkampftag zeigt das Thermometer minus 20 Grad. Der Eiskanal ist spiegelglatt und extrem hart. © Staatsarchiv Freiburg

Für die Steilwände der Bobbahn werden Schneeblöcke zurechtgeschnitten und wie bei einem Iglu aufeinander geschichtet. Anschließend müssen die Zwischenräume mit Schnee gefugt werden. „Wir haben Wasser in einen Holzbottich geleitet, das mit Schnee vermischt wurde“, berichtet einer der Bobbahn-Veteranen. Und dann steht alles auf der Kippe: Die Temperaturen steigen und die Eisrinne droht zu schmelzen. Ist das das Ende?

“Wir mussten uns ins Zeug legen. Uns blieb nicht mal Zeit für eine Zigarettenpause. Wir haben mit Zigaretten im Mund geschaufelt.“ 
(Conny Zähringer)

Pausenlos wird die Bahn mit Wasser besprengt um das Tauen des Eises zu verhindern. Die wochenlange Knochenarbeit zahlt sich aus: Die Kesslerbahn ist beeindruckend. Die insgesamt neun Steilkurven ragen fast senkrecht in die Landschaft empor. Und endlich sinken die Temperaturen, die Bahn ist gerettet.

Zu den Trainingsläufen auf der neuen Bahn kommen mehr als 1.500 Zuschauer. In der Nacht zum 31. Januar 1954 wird die Rinne nochmals präpariert. Am Wettkampftag zeigt das Thermometer minus 20 Grad. Der Eiskanal ist spiegelglatt und extrem hart. Trotz der klirrenden Kälte pilgern über 10.000 Besucher nach Hinterzarten, um sich das Spektakel anzusehen. Das Medienecho ist enorm: Rundfunk, Tageszeitung, ja sogar das Fernsehen berichtet live vom Kesslerhang. Am Renntag ist es so kalt, „dass der Schnaps fast eingefroren ist“, witzelt Josef Steiert, ehemaliger Revierförster von Hinterzarten. Auch die Technik streikt: Die Lautsprecheranlage fällt der Kälte zum Opfer.

Ein Unfall. Ein kleiner Junge schwebt in Lebensgefahr

Das Publikum strömt zur Bobbahn. An den Steilkurven drängen sich die Zuschauermassen. Jeder will so dicht wie möglich dran sein, wenn die tollkühnen Piloten im Höllentempo um die Kurven fetzen. Das Fahrerfeld mit zwölf Startern ist prominent besetzt: Olympiasieger Ostler, die Fahrer Nieberl und Rösch, aus der Schweiz ist Weltmeister Kappus am Start. Für Hinterzarten starten zwei Teams. Sie sind an ihren schwarz-gelben Pullovern mit auffälligem V-Streifen und Clubemblem zu erkennen.

Für Hinterzarten starten zwei Teams. Sie sind an ihren schwarz-gelben Pullovern mit auffälligem V-Streifen und Clubemblem zu erkennen.
Für Hinterzarten starten zwei Teams. Sie sind an ihren schwarz-gelben Pullovern mit auffälligem V-Streifen und Clubemblem zu erkennen. © Staatsarchiv Freiburg

Auch Wolfgang Willmann, ein neunjähriger Schüler, will die rasante Abfahrt der Bobfahrer sehen. Doch dazu kommt es nicht. Alles, an das er sich erinnern kann, sind die Werbeplakate des Bobrennens. Was danach geschah, ist für immer aus seinem Gedächtnis gestrichen. Just in dem Augenblick als der Schüler zur Eisrinne kommt, hört man panische Schreie. Menschen springen zur Seite. Anderl Ostler, der Olympiasieger, hat die Kontrolle über seinen Bob verloren. Die Kufen schleudern über das Eis, das schwere Gerät fliegt aus der Kurve, katapultiert sich in die Luft – direkt auf den jungen Wolfgang zu. Die Kufe trifft den Schüler direkt am Kopf.

“Alle dachten, das überlebe ich nicht“,
(Wolfgang Willmann)

erzählt der heute 71-jährige Wolfgang Willmann beim Treffen der Bobbahn-Veteranen. Nur dem raschen Eingreifen des Metzgermeisters Karl Mundinger ist es zu verdanken, dass Willmann überlebt. Er packt den Jungen auf einen Schlitten und bringt ihn zur nahe gelegenen Privatklinik des Chirurgen Wagner. Wolfgang Willmann liegt im Koma, drei Ärzte kämpfen um sein Leben. Ein Drittel der Schädeldecke ist zertrümmert. Nach einer Woche wacht Willmann aus dem Koma auf, übersteht mehrere komplizierte Operationen, lernt mühsam wieder Laufen und Sprechen. Später wird der Grund für den schlimmen Unfall ermittelt: während der Abfahrt brach die Lenkung des Bobs.

Das Rennen am Kesslerhang gewinnt der Schweizer Bob mit dem Duo Angst/Hug, die mit 39,83 Sekunden den Bahnrekord aufstellten. Die Hinterzartener Baumstark/Hercher erringen einen beachtlichen dritten Platz, Wißler/Wißler landen auf Rang 4.

Das legendäre Rennen in der Kesslerrinne blieb das einzige Großereignis des Bob- und Schlittenclubs. Später baute der Club im Adlerwald eine Betonbahn auf der noch kleinere Wettkämpfe gefahren wurden. Allerdings waren die Winter einfach zu mild um die Bahn zu betreiben. Ende 1957 wurde die Bahn stillgelegt, und das glorreiche Kapitel des Bob- und Schlittenclubs und der schnellsten Bobbahn Deutschlands geriet in Vergessenheit.