Die Nacht, als die Sonne brannte

Der Gasthof Sonne-Post und seine wechselhafte Geschichte
01.02.2019

von Matthias Maier

Zusammenhalt und Durchhaltevermögen, Zerstörung und Wiederaufbau prägen die Geschichte der Sonne-Post in Waldau. Seit 1870 im Besitz der Familie Wehrle, war das Gasthaus mehr als ein Jahrhundert lang Poststation. Vor knapp 30 Jahren brannte das Hotel beinahe komplett nieder – und wurde innerhalb nur eines Jahres mit Unterstützung der Dorfgemeinschaft und vieler Stammgäste wiederaufgebaut.

Gerhard Wehrle hatte an jenem Freitagabend als Letzter noch in der Küche gearbeitet. Bis spät in die Nacht bereitete der Inhaber und Küchenchef des Gasthofs Sonne-Post Zutaten und Speisen für das anstehende Wochenende vor, an dem er wieder zahlreiche Gäste in seinem Hotel erwartete. Erst nach Mitternacht legte er die Schürze ab und sich wenig später ins Bett. Ruhig war es geworden im 400-Seelen-Dorf Waldau, das so idyllisch zwischen den sanften Hängen des oberen Ordnachtals liegt.

Das Gasthaus war mehr als ein Jahrhundert lang Poststation.
Das Gasthaus war mehr als ein Jahrhundert lang Poststation. © Gasthaus Sonne-Post

Doch schon um 3:40 Uhr wurde der Gastwirt aus dem Schlaf gerissen, von seiner ältesten Tochter Natalie. Brandgeruch hatte die 15-Jährige wahrgenommen in ihrem Zimmer direkt über der Küche. Gerhard Wehrle sprang auf, rannte ins Erdgeschoss, wo die Kücheneinrichtung bereits lichterloh in Flammen stand. Zu retten, das erkannte er gleich, gab es hier unten nichts mehr – wohl aber die Leben seiner Familie, seiner Mitarbeiter und der 34 Hotelgäste. Nachdem er die Feuerwehr alarmiert hatte, eilten er und seine Frau Ursula durch alle Zimmer, weckten die Schlafenden. Mit nichts als Nachthemden und Unterwäsche am Leib strömten die Gäste nach draußen.

In der Dorfkirche, direkt gegenüber dem Gasthof, fand die geschockte Menge Zuflucht. „Ich weiß noch genau, wie wir in der Kirche mehrfach durchgezählt haben, um sicherzugehen, dass alle da sind“, erzählt Gerhard Wehrle. Und es waren alle da, bis auf kleinere Blessuren unverletzt. Draußen hallte inzwischen der Ruf „Die Sonne brennt, die Sonne brennt“ durch Waldau – mitten in der Nacht. Seine drei Töchter hatte Gerhard Wehrle im Haus seiner Schwester nebenan einquartiert. Yvonne, die mittlere der drei, erinnert sich noch, wie sie damals als 10-Jährige in der Wohnung ihrer Tante am Fenster stand und sah, wie gewaltige Flammen aus dem Hotel schlugen:

“Das war alles ziemlich surreal und für mich noch gar nicht zu begreifen.“
(Yvonne Eiche)

Vom Gasthof Sonne-Post, ihrem Zuhause, seit 1870 im Familienbesitz, war nach dem Brand an jenem 17. August 1991 kaum noch etwas übrig.

Am 17. August 1991 hallte durch die Nacht "Die Sonne brennt"
Am 17. August 1991 hallte durch die Nacht "Die Sonne brennt" © Gasthaus Sonne-Post

Ein Haus der starken Frauen

121 Jahre zuvor hatte Stefan Wehrle, Yvonnes Ururgroßvater, das Bauernhaus mit Krämerladen im Dorfkern von Waldau gekauft. Als Uhrenhändler war er in den Jahren zuvor in London zu einem kleinen Vermögen gekommen. Zurück in der Heimat eröffnete er 1870 in seinem neuen Heim eine Gastwirtschaft und gab ihr den Namen „Zur Sonne“. Gleichzeitig wurde das Gasthaus Posthaltestelle der Großherzoglich Badischen Post.

Der jüngste Sohn Stefan Wehrle junior übernahm den Gasthof 1903, fiel jedoch im Ersten Weltkrieg. Daraufhin begann die Geschichte der Sonne als Haus der starken Frauen: Seine Witwe Berta führte den Betrieb von 1916 bis 1938 über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg. Während dieser Zeit war sie Posthalterin von Waldau, begründete die Fremdenpension, hielt die Landwirtschaft und den Gasthof am Laufen und zog auch noch vier Kinder groß. „Sie war immer hilfsbereit und ihrer Heimat Waldau sehr stark verbunden“, beschreibt Gerhard Wehrle seine Großmutter.

Beim Wiederaufbau packten viele Dorfbewohner ehrenamtlich mit an.
Beim Wiederaufbau packten viele Dorfbewohner ehrenamtlich mit an. © Gasthaus Sonne-Post

An Silvester 1929 kam zum letzten Mal die Postkutsche aus Neustadt in der Sonne an. Fortan verkehrten motorisierte Postbusse. Morgens fuhren sie von Waldau nach Neustadt, brachten Briefe und Päckchen, aber auch viele Arbeiter in die Stadt. Abends kehrten sie mit anderen Briefen und Päckchen, aber den gleichen Arbeitern zurück nach Waldau. In der Sonne fanden Bus wie Fahrer ihre Nachtruhe und wurden von Berta Wehrle versorgt. Der Chauffeur mit Essen und einem warmen Bett, das Fahrzeug während der Winterzeit mit heißen Kohlenbriketts. Die wickelte die Wirtin in Zeitungspapier und legte sie abends in den Motorraum, damit der Postbus am nächsten Morgen wieder ansprang.

Den Schinken unter den Bodendielen versteckt

Gewieft und einfallsreich sei seine Großmutter in vielerlei Beziehung gewesen, erinnert sich Gerhard Wehrle. Als am Ende des Zweiten Weltkriegs französische Soldaten auch in den Hochschwarzwald vorrückten, versteckte sie ihre Vorräte an Schwarzwälder Schinken und Speck im schmalen Durchgang zum Stall in einem Hohlraum unter den Fußbodendielen.

Die Leitung der Gastwirtschaft hatte sie bereits 1938 an ihren Sohn August und dessen Frau Augusta übergeben. Wie es bereits eine Generation zuvor geschehen war, musste auch August Wehrle in den Krieg ziehen und seine Frau die Sonne sechs Jahre lang alleine führen – mit allen dazugehörigen Aufgaben, mit aller Verantwortung. Bewunderung schwingt mit, wenn Enkelin Yvonne heute über sie sagt: „Ich habe meine Oma als sehr taffe Frau in Erinnerung.“

Augusta Wehrle führte die Sonne sechs Jahre lang alleine.
Augusta Wehrle führte die Sonne sechs Jahre lang alleine. © Gasthaus Sonne-Post

In die Fußstapfen ihrer Oma Augusta und ihrer Urgroßmutter Berta ist Yvonne Eiche Anfang dieses Jahres getreten, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Thomas Eiche und ihren beiden Töchtern aus Basel zurück in den Hochschwarzwald gezogen und in den Familienbetrieb eingestiegen ist. In naher Zukunft wird das Paar die Geschäftsführung der Sonne-Post übernehmen. Von klein auf hat Yvonne bei der Arbeit im Hotel mitgeholfen, Gäste kommen und gehen sehen, den Brand 1991 miterlebt und auch die überwältigende Hilfsbereitschaft danach.

Noch in der Brandnacht versorgten Waldauer Bürger die halbnackten Hotelgäste mit Kleidung und warmem Tee, der Pfarrer spendete Zuspruch und Trost, der Bürgermeister gab Bargeld, wo es nötig war. Die Stadt Titisee-Neustadt, in die Waldau 1973 eingemeindet worden war, brachte die Urlauber in freien Zimmern in der Umgebung unter. Und ein Gastwirt aus dem Dorf spendierte ihnen am Brandmorgen das Frühstück.

Innerhalb von nur einem Jahr wurde das Gasthaus wieder aufgebaut.
Innerhalb von nur einem Jahr wurde das Gasthaus wieder aufgebaut. © Gasthaus Sonne-Post

Die Sonne-Post war durch das Feuer, das ein defekter Dunstabzug ausgelöst hatte, größtenteils zerstört, lediglich der seitliche Anbau verschont geblieben. Zwei Millionen Mark betrug der Sachschaden. Gerhard und Ursula Wehrle kamen mit ihren Töchtern für die folgenden zwölf Monate in einer Ferienwohnung im Dorf unter. Die letzten Glutnester waren kaum gelöscht, da wurde bereits der Wiederaufbau angegangen. Der Architekt Hermann Ganter aus Hinterzarten unterbrach seinen eigenen Urlaub, war keine zwei Tage nach dem Brand schon in Waldau und begann mit den Planungen. Die Waldauer Vereine veranstalteten gemeinsam ein Benefizfest und spendeten den Erlös den Wehrles. Handwerker – Maler, Schlosser, Fliesenleger – aus dem Ort halfen ehrenamtlich. Und viele Stammgäste schickten der Familie mit ihren drei Kindern Kleider und Spielsachen. Dafür ist Gerhard Wehrle heute noch dankbar: „Diese große Anteilnahme und der Zusammenhalt im Dorf – das hat uns sehr viel Kraft gegeben.“

Im Gastraum spielte man Tischtennis

Fast exakt ein Jahr nach dem Feuer konnte das Gasthaus im August 1992 seine Neueröffnung feiern. Auch jetzt war der Zuspruch riesig, die Gäste kamen sofort wieder. Und auch die Poststelle nahm wieder ihre Arbeit auf, wie es seit gut 120 Jahren Tradition war. Teil dieser Arbeit als Posthalter war es noch vor einigen Jahrzehnten, den Menschen ihre Briefe bis auf die entlegensten Höfe zu bringen. Sein Vater August, der von 1952 bis 1972 als letzter Bürgermeister von Waldau wirkte, habe dies im Winter mitunter auf Skiern erledigt, erzählt Gerhard Wehrle. Ein sehr geselliger Mann sei sein Vater gewesen, der gern mit den Gästen in seiner Wirtschaft zusammen saß. Mit den Fahrern des Postbusses spielte August Wehrle oft bis tief in die Nacht Karten. „Und wenn der Lehrer da war, haben sie manchmal zwei Tische zusammengestellt und Tischtennis gespielt“, ergänzt Gerhard Wehrle lachend.

Seit 1870 in Familienbesitz.
Seit 1870 in Familienbesitz. © Matthias Maier

So ungezügelt ging es nicht immer zu im katholischen Waldau: Diese Erfahrung machte noch in den 1960er-Jahren ein unverheiratetes Paar, das in der Sonne übernachten wollte. Nach einigem Hin und Her wurden die Verliebten für die Nacht nicht nur in getrennten Zimmern, sondern gleich in unterschiedlichen Gebäuden untergebracht: die Dame im Haupt-, der junge Herr im Gästehaus. Ein Jahr später kamen die beiden erneut ins Hotel, legten als Erstes ihren Trauschein auf den Tresen und sahen die Mitarbeiterin an der Rezeption mit erwartungsfrohem Blick an, als wollten sie fragen: „Dürfen wir jetzt endlich?“ Sie durften.

Im Jahr 1994 wurde die Poststelle im Hotel schließlich aufgegeben. Geblieben sind ein gelber Briefkasten vor der Tür, die „Post“ im Namen des Gasthauses und das gusseiserne Posthorn auf dem Nasenschild an der Fassade. Auch im Innern des Hotels ist die ereignisreiche Geschichte des Hauses präsent: Neben alten Ansichtskarten und Fotos von Berta Wehrle, von August und Augusta Wehrle, vom Brand und vom Wiederaufbau hängt ein Stammbaum an der Wand. Unten, bei den Wurzeln, steht der Name Stefan Wehrle, der die Gastwirtschaft einst gründete. Und ganz oben, in der Krone, ist der Name von Yvonne Eiche eingezeichnet, die die Familientradition nun gemeinsam mit ihrem Mann fortführen wird.

Nachfolge gesichert: Yvonne Eiche (Mitte) ist in die Fußstapfen von Oma Augusta und ihren Eltern Ursula und Gerhard Wehrle getreten. Gemeinsam mit Ehemann Thomas führt sie das Hotel und damit die Familientradition fort.
Nachfolge gesichert: Yvonne Eiche (Mitte) ist in die Fußstapfen von Oma Augusta und ihren Eltern Ursula und Gerhard Wehrle getreten. Gemeinsam mit Ehemann Thomas führt sie das Hotel und damit die Familientradition fort. © Matthias Maier

Gut zu wissen

Hotel Sonne-Post
Landstraße 13
79822 Titisee-Neustadt