Neubaugebiet

Ökosystem Wald

Eine große Gemeinschaft
30.04.2018

von Stella Schewe-Bohnert

Der Wald ist ein riesiges, ineinander greifendes Ökosystem – darin sind sich Förster und Biologen einig. Doch sind Bäume auch, wie von manchen angenommen, soziale Wesen, die sich in ihrem Wachstum gegenseitig fördern? Darüber haben wir auf einem Waldspaziergang mit Ulrich Schraml von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg gesprochen.

Stella Schewe-Bohnert: Herr Schraml, in „Das geheime Leben der Bäume“ schreibt Förster Peter Wohlleben, dass Bäume kommunizieren und aufeinander achten. 2015 stand das Buch monatelang auf den Bestsellerlisten ...
Ulrich Schraml: Ja. Es ist schon bemerkenswert, dass ein vermeintlich angestaubtes Thema wie der Wald so einen Hype auslösen kann. Ich finde, es ist eine tolle Erfahrung, dass der Wald so viele Menschen begeistert. Aber: Was Wohlleben da präsentiert, ist eigentlich kein Sachbuch über den Wald, sondern eine Sozialutopie. In seinem Buch gibt es nur positive Geschichten.

Stella Schewe-Bohnert: Wie etwa die, dass sich ein Baum fürsorglich um seine Kinder kümmert?
Ulrich Schraml: Genau, das ist das perfekte Familienbild: Da sind alle gut zueinander, da funktioniert die Welt. Die Bäume warnen sich gegenseitig vor Gefahren, das ist natürlich stark! Und so mancher denkt sich dann: Jetzt weiß ich endlich, warum ich mich im Wald so wohl fühle. Aber der Wald als Gegenwelt – das funktioniert auch ohne diese Legendenbildung.

Stella Schewe-Bohnert: Inwiefern?
Ulrich Schraml: Nehmen wir doch mal uns beide: Schon nach den wenigen Schritten, die wir jetzt gelaufen sind, hat sich die Geräuschkulisse dramatisch verändert. Unten im Ort haben wir Autos gehört, hier zwitschern die Amseln. Auch klimatisch gibt es eine Veränderung: Mich fröstelt jetzt fast ein bisschen, denn hier ist es sicherlich zwei, drei Grad kälter. An einem warmen Sommertag ist alleine dieser Effekt eine großartige Geschichte. Und auch für das Auge ist es hier viel ruhiger und für das Ohr angenehmer. Es ist eine Gegenwelt – für den ganzen Körper und auch für die Gefühle!

Bäume  kommunizieren und achten aufeinander.
Bäume kommunizieren und achten aufeinander. © Hochschwarzwald Tourismus GmbH

Stella Schewe-Bohnert: In Wohllebens Buch werden Bäume als menschenähnliche Lebewesen beschrieben...
Ulrich Schraml: Ja, die Argumentation ist immer ähnlich. Gibt es eine physikalisch messbare Reaktion von Bäumen, dann sagt er: Der Baum hört, schmeckt, fühlt und muss daher auch ein Bewusstsein haben. Und insofern sind seine Reaktionen mit Intentionen verbunden – und nicht nur ein Effekt, der sich über die Jahre hinweg genetisch stabilisiert hat. Dann sorgt wirklich eine „Mutter Bäumin“ liebevoll für ihre Jungen. Irgendwo auf dieser Argumentationskette schießt der Autor meines Erachtens über das Ziel hinaus. Denn die Beziehungen im Wald sind vielfältiger, da geht es ums Überleben, da gibt es Gewinner und Verlierer. Zum Beispiel, wenn eine Buche ganz viele „Kinder“ auf die Reise schickt, also zigtausend Bucheckern produziert, die auf den Boden fallen. Manche keimen und werden groß, aber ganz viele sterben unter dem Blätterdach ihrer vermeintlich „fürsorgenden Mutter“, die ihnen ganz brutal Wasser und Licht wegnimmt.

Stella Schewe-Bohnert: Aber im Ökosystem Wald profitieren Pflanzen doch durchaus voneinander?
Ulrich Schraml: Keine Frage: Etwa die kleine Eiche hier, inmitten von Brombeeren. wird gerne von Rehen gefressen. In dieses Gestrüpp aber gehen Rehe nicht so gerne hinein. Es kann also gut sein, dass die Eiche von den Brombeeren profitiert, dass diese ihr Wachstum quasi fördern. Oder dieser Ahorn hier, der der kleinen Tanne Schatten spendet. In der Jugend braucht die Tanne Schatten; neben dem Baum ist sie vor praller Sonneneinstrahlung und im Winter vor Frost geschützt. Insofern hat hier ein Baum durch seinen Standort eine positive Wirkung auf einen anderen.

Stella Schewe-Bohnert: Was hat es mit der Symbiose zwischen Bäumen und Pilzen auf sich?
Ulrich Schraml: Viele Bäume haben Probleme, sich die Nährstoffe im Boden allein über ihre Wurzeln zu erschließen. Im Zusammenspiel mit Pilzen aber funktioniert das sehr gut. Manche Bäume etwa wachsen gar nicht an, wenn kein entsprechender Pilz im Boden ist. Pilze sind also ein wesentlicher Partner, um an Nährstoffe und Wasser zu kommen. Dieses intensive Zusammenspiel bezeichnet man als Mykorrhiza.

Pilze helfen den Bäumen an Nährstoffe und Wasser zu kommen.
Pilze helfen den Bäumen an Nährstoffe und Wasser zu kommen. © Ulrich Schraml

Stella Schewe-Bohnert: Gibt es so ein Zusammenspiel auch zwischen Pflanzen und Tieren?
Ulrich Schraml: Ja, beispielsweise zwischen Bäumen und Vögeln. Die Eiche etwa profitiert davon, dass der Eichelhäher ihre Früchte herumträgt. Wenn alle Eicheln unter den Baum fielen, dann hätten die wieder das vorhin beschriebene Licht- und Wasserproblem. Aber wenn ich einen freundlichen Helfer zur Hand habe, der meine Früchte transportiert und sie dann irgendwo versteckt, wo sie keimen können, dann ist das ein attraktives Zusammenspiel. Allerdings steckt da keine Intention des Vogels dahinter, kein Mitgefühl nach dem Motto „Ich will dir lieber Baum helfen“, sondern der Eichelhäher hat natürlich eigentlich die Absicht, die Eichel zu fressen. Der gegenseitige Nutzen ist also da, aber es ist eine Frage der Begrifflichkeit.

Stella Schewe-Bohnert: Kann man sagen, dass Bäume miteinander sprechen?
Ulrich Schraml: Der Begriff „sprechen“ hilft uns vielleicht zu verstehen, dass eine Art Austausch stattfindet. Aber  Sprache beinhaltet auch, dass es einen ausdifferenzierten Code gibt. Und das geht sicherlich über das hinaus, was bei Bäumen stattfindet. Nehmen wir einen Baum, der von Borkenkäfern angeknabbert wird. Er reagiert darauf, indem er Botenstoffe aussendet, die von anderen Bäumen wahrgenommen werden. Es ist also tatsächlich so, dass ein Baum mit anderen in Kontakt steht. Aber ob dahinter tatsächlich die Intention steckt, dass dieser Baum gütig zu seinen Freunden ist und sie warnt – mit so einer Interpretation wäre ich vorsichtig. Das Wort „sprechen“ würde ich daher weglassen. 

Stella Schewe-Bohnert: Und empfinden sie Schmerz?
Ulrich Schraml: Der Begriff Schmerz ist für eine bestimmte Reaktion belegt: Ein Sinnesorgan leitet etwas weiter zum Gehirn und löst dort eine Reaktion aus. Das setzt ein Bewusstsein und ein zentrales Nervensystem voraus. Da denke ich, sind sich die Biologen einig: So etwas gibt es bei Bäumen nicht. Es gibt Reaktionen, aber ich würde nicht sagen, der Baum leidet Schmerzen. Im Gegensatz zu Menschen und Tieren kann er ja nicht räumlich ausweichen, wenn an ihm geknabbert wird, er hat also keinerlei Nutzen davon, Schmerz zu spüren, das macht überhaupt keinen Sinn. Da müsste Mutter Natur äußerst brutal sein, wenn sie den Bäumen kontinuierlich Schmerz zufügen würde! Aus meiner Sicht ist das ein absurder Gedanke.

Der Baum hört, schmeckt, fühlt und muss daher auch ein Bewusstsein haben.
Der Baum hört, schmeckt, fühlt und muss daher auch ein Bewusstsein haben. © Stella Schewe-Bohnert

Stella Schewe-Bohnert: Der aber große Auswirkungen auf den Umgang mit Bäumen hätte, oder?
Ulrich Schraml: Absolut. Denn wenn ich sage, Bäume sind menschengleiche Lebewesen, zieht das einen sehr achtsamen Umgang mit Bäumen nach sich. Dann bin ich als Mensch in meinen Nutzungsmöglichkeiten eingeschränkt. Also Bäume fällen, um einen schönen und attraktiven Erholungswald zu gestalten, in den mehr Sonne hereinfällt und in dem sich der Blick weiten kann, das wäre dann gar nicht mehr möglich.

Stella Schewe-Bohnert: Was würde passieren, wenn man den Wald sich selbst überlassen würde?
Ulrich Schraml: Da die Buche ein geschlossenes Blätterdach ausbildet und bei uns in der Region allen anderen Baumarten überlegen ist, hätten wir sicherlich in weiten Teilen von Buchen bestimmte Wälder. Also nicht dieses bunte Bild, das wir momentan haben. Um uns herum finden wir zehn verschiedene Baumarten! Diese Vielfalt ist „nicht natürlich“, sondern von Menschen gewollt. Sie wird hier von Förstern so gestaltet, damit der Wald vielfältig ist und wir ein Wechselspiel aus dunkleren und helleren Passagen haben.

Stella Schewe-Bohnert: Ein Bannwald hätte also einen ganz anderen Charakter?
Ulrich Schraml: Ja, ein dichter Wald wird nicht unbedingt als positiv erlebt, sondern eher als Bedrohung. Wenn ich Wildnis zulasse, dann gehe ich das Risiko ein, dass sich der Wald in eine Richtung entwickelt, die unserem Idealbild von Erholungswald nicht mehr entspricht.

 

Ulrich Schraml
Ulrich Schraml © Stella Schewe-Bohnert

Zur Person

Ulrich Schraml leitet die Abteilung Wald und Gesellschaft an der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg in Freiburg. 2016 wurde der Forstwissenschaftler von Bundeskanzlerin Merkel in den 15-köpfigen Rat für Nachhaltige Entwicklung berufen, der Ideen für die Umsetzung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt. Der 48-Jährige lebt mit seiner Familie und drei Hunden in Emmendingen.

Gut zu wissen

Wie alles zusammenhängt, lässt sich am besten direkt vor Ort sehen. Darum bieten Förster in der Region spezielle Touren an, bei denen sie spannende Informationen zum Wald nicht nur erzählen, sondern auch zeigen können. Ob durch den Bannwald im Rothauser Land oder mit dem Ranger über den Feldberg. Alle Informationen im Veranstaltungskalender.