Über dem Feldberg ziehen schon Wolken auf, während sich die Morgensonne bereits mit einem roten Lichtstreifen am Horizont ankündigt.

Schwarz wird zu Blau

Nachtwandern auf den Gipfel des Herzogenhorns
11.06.2015

von Patrick Kunkel

Um vom Gipfel des Herzogenhorns aus die Sonne beim Aufgehen zu beobachten, muss man verdammt früh aufstehen. Es lohnt sich. Nicht nur, weil das Morgenlicht so schön strahlt. Sondern auch wegen der sehr sehr dunklen Nacht in Menzenschwand.

Menzenschwand ist hinreißend und überhaupt voller Raritäten: alte Schwarzwaldhäuser, eine Klamm mit Wasserfällen und dichter Wald, der die Steilhänge rund um das Dorf überzieht. Dort streifen Gämse umher. Menzenschwand hat ein Vorderdorf, ein Mitteldorf und ein Hinterdorf. Und im Moor, das einen längeren Fußmarsch bergauf liegt, wächst das Rundblättrige Sonnentau, eine kleine Pflanze, die Insekten fängt und verspeist.

Schön, all das. Wenn man es denn sehen könnte.

Adrian ist in Menzenschwand aufgewachsen. Die Wälder rings um den Ort waren sein Abenteuerspielplatz.
Adrian ist in Menzenschwand aufgewachsen. Die Wälder rings um den Ort waren sein Abenteuerspielplatz. © Patrick Kunkel

Blöde Idee, so früh aufzustehen?

Kann ich aber nicht, es ist stockdunkel. Ich stehe auf der Hauptstraße irgendwo im Mitteldorf. Es ist kurz nach vier Uhr früh und die Menzenschwander Straßenbeleuchtung ist – jedenfalls um diese Uhrzeit - ausgeschaltet. So kann man hier erleben, was es in den lichtgesättigten Städten heutzutage kaum noch gibt: Allumfassende Dunkelheit. So dunkel, dass ich nicht den Boden unter meinen Füßen sehe und auch nicht das Haus, aus dem ich gerade herausgetreten bin oder das Haus gegenüber. Ich sehe nur die Schattenrisse der Schwarzwaldberge rundherum und darüber den klaren Himmel. Und die Sterne!

Vor zehn Minuten dachte ich noch: Was für eine blöde Idee es denn sei, zu solch' einer Zeit aus dem Bett zu steigen, nein, sich aus dem Bett zu quälen, während alle anderen noch schlafen. Doch jetzt streichelt die frische Nachtluft mein Gesicht, ich höre die Geräusche der Nacht – wie ein Bach leise gurgelt und rauscht. Wie die leichte Brise Blätter rascheln lässt. Irgendein Knacken. Ein Kauz ruft sein Kiwitt in die Nacht hinaus. Und sonst nichts. Menzenschwand bei Nacht, das ist ein echter Geheimtipp.

Dann kommt Adrian. War ja so abgemacht. Erst nur ein leises Motorgeräusch, das aber schnell näher kommt, zwei Scheinwerfer durchschneiden Mitteldorf: „Guten Morgen! Steig ein.“ Adrian Probst arbeitet bei der Bergwacht Freiburg und gemeinsam wollen wir heute früh das Herzogenhorn besteigen, den dritthöchsten Berg des Hochschwarzwalds. Damit wir rechtzeitig bei Sonnenaufgang oben ankommen, fahren wir in Adrians Bergwacht-Jeep erst die Dorfstraße und dann einen breiten Forstweg ein Stück bergauf: „Ich bin schon öfter Nachts auf das Herzogenhorn gelaufen, um mir den Sonnenaufgang anzusehen, und ein paar Mal war ich schon zu spät. Lass' uns lieber ein bisschen abkürzen.“

Es rumpelt ein bisschen, wenn Adrian über Schlaglöcher donnert, doch nach einer kurzen Fahrt lassen wir den Wagen mitten im Wald stehen, irgendwo unterhalb der Krunkelbachhütte, und stapfen los. Genug Fußweg bleibt uns dennoch, trotz der Abkürzung, und die Lichtkegel unserer Stirnlampen erhellen den Wurzelteppich vor uns, den da einer ausgerollt hat: Unser Wanderweg bergauf!

Um vom Gipfel des Herzogenhorns aus die Sonne beim Aufgehen zu beobachten, muss man verdammt früh aufstehen.
Um vom Gipfel des Herzogenhorns aus die Sonne beim Aufgehen zu beobachten, muss man verdammt früh aufstehen. © Patrick Kunkel

Fast schon mystisch hier oben

Adrian ist in Menzenschwand aufgewachsen. Die Wälder rings um den Ort waren sein Abenteuerspielplatz und das 1415 Meter hohe Herzogenhorn mit seinem ungewöhnlich hohen Holzkreuz auf dem Gipfel ist noch heute sein Lieblingsort, an den er sich zurückzieht, wenn er alleine sein will und einfach mal durchatmen mag.

Wir stapfen bergan, langsam und bedächtig, und während auf den ersten Metern jenseits der wenigen Quadratmeter Boden, die unsere Lampen erhellten, nur dichte Schwärze zu sehen gewesen war, schälen sich jetzt nach und nach die Umrisse mächtiger Baumstämme, rauer Felsen und struppigen Unterholzes aus der Dunkelheit. Es dämmert. Schwarz wird langsam zu blau. Und als wir kurz darauf über eine offene Weidefläche laufen, sehen wir, wie die dunklen, hintereinander gestaffelten Umrisse der Berge langsam an Kontur gewinnen und sich zugleich am Horizont verlieren. Aus den Tälern steigt Nebel hinauf.

Tief durchatmen und weiter hoch! Noch fehlen uns gut hundert Höhenmeter und ostwärts, über dem Feldberg ziehen schon Wolken auf, während sich die Morgensonne bereits mit einem roten Lichtstreifen am Horizont ankündigt.

Ein wirklicher Gipfel

„Fast schon mythisch hier oben“, sagt Adrian, als wir auf endlich auf der Kuppe oben ankommen. Es ist windstill und ganz leise. Dann geht die Sonne über dem Feldberg auf. Einen richtigen Sonnenaufgang sehen wir nicht, keinen orangeroten, runden Ball, dafür sind inzwischen zu viele Wolken aufgezogen. Aber die vor dem rötlich-lila gefärbten Horizont dahinhuschenden Wolkenfetzen machen sich genau so gut – mindestens. Für diese Morgenstimmung lohnt es sich, früh aufzustehen.

Auf dem Gipfel in morgendlicher Mystik.
Auf dem Gipfel in morgendlicher Mystik. © Patrik Kunkel

Das Gipfelkreuz zeichnet sich schwarz und scharf konturiert gegen den Horizont ab, es wirkt düster und gleichzeitig filigran. In das rissige Holz, direkt über dem Blechkasten, in dem das Gipfelbuch liegt, hat einer „Anne, ich liebe dich“ eingeritzt – so, als sei dies der erhabenste Ort weit und breit für eine Liebesklärung. Vielleicht hat der unbekannte Mensch ja recht: „Wenn man da oben am Herzogenhorn steht“, sagt Adrian, „da hat man das Gefühl, man ist wirklich auf einem Gipfel.“

Auf dem Abstieg verabschiedet sich Adrian und rumpelt mit seinem Jeep zurück ins Tal. Ich will die Morgenstimmung noch länger genießen und streune auf einem handtuchschmalen Bergsteig bergab. Der Weg über das Kleine Spießhorn, den Kaiserfelsen und die Hohfelsen ist wurzelig, felsig und steil. Kleine Bächlein schießen über den Weg, auf den Lichtungen streicht hohes Gras, das noch feucht ist vom Morgentau, meine Knie. Vögel zwitschern, ich umrunde ein Herde stoisch weidender Rindviecher. Und zum Schluss beschert mir der Menzenschwander Wald ein ganz besondere Aufmerksamkeit: Auf dem feuchten Boden vor mir wachsen Pfifferlinge. Das Gold des Waldes – gleich als Waldpilzomelett zum Frühstück. Und danach wieder ins Bett!