Wasser fällt wie ein Schleier vom Moos

Dem Ranger seine gute Stube

"Für mich ist die Wutachschlucht fast wie ein zweites Zuhause"
02.12.2013

von Patrick Kunkel

Die Wutach ist wild, wütend und überhaupt eine ziemlich launische Gesellin. Über Nacht macht sie auch mal einen Wanderweg zum Steilhang, demoliert Brücken oder zermahlt auf ihrem Weg schluchtabwärts so manch eine oben in Neustadt achtlos ins Wasser geworfene Tannenzäpfleflasche zwischen dem uraltem Gesteinsschutt in ihrem Flussbett zu flachen, bräunlichen Glasperlen, die man weiter unten aus dem Kies klauben kann.

Bloß heute wütet die Wutach nicht so sehr. Wochenlang hat es kaum geregnet, das Thermometer zeigt 35 Grad und wir stapfen auf einem schmalen Wurzelpfad durch dichten Wald. Neben uns plätschert klares Wutachwasser träge über Kieselsteine. „Der Pegel liegt seit Tagen weit unter 40 Zentimeter“, sagt Martin, der uns ein Stück unseres Wegs von der Schattenmühle zur Wutachmühle begleitet: „Doch die Wutach hat auch ein anderes Gesicht. Das eines Wildflusses, der durch Überschwemmungen und Erosion diese Landschaft immer wieder neu gestaltet.“

Wenn die Wutach gerade mal nicht für Action sorgt, muss man halt selbst ran – wird sich wohl der Spaziergänger mittleren Alters gedacht haben, der ein paar Meter vor uns erst schwungvoll über einen bemoosten Stein rutscht, eine halbe Pirouette dreht und mit dem Rücken auf einem knorrigen Wurzelstock landet. Weh muss das getan haben, aber er keucht nur „nichtspassiert, garnichtspassiert“ zwischen schmal zusammengepressten Lippen hervor und humpelt weiter.

Der schmale Pfad führt durch struppigen Wald.
Der schmale Pfad führt durch struppigen Wald. © Patrick Kunkel

Wo das Wasser die Landschaft gestaltet

Hätte er vorher mal mit Martin geredet.

Von ihm kann man schon vor einer Wanderung allerlei Nützliches erfahren. Etwa dass mit Flipflops durch die Wutachschlucht laufen ähnlich sinnvoll ist wie Radfahren bei Blitzeis. Was vor allem daran liegt, dass das Wasser hier unten in der Schlucht das alles bestimmende Element ist, wie Martin sagt. Es sorgt für üppiges Grün, für Leben und schroffe Felsgalerien, aber eben auch dafür, dass selbst im Hochsommer die Steine schmierig, die Wurzeln glitschig und die Böden nicht selten aufgeweicht sind.

Martin Schwenninger ist 56 Jahre alt und manche sagen, dass der Mann die Wutachschlucht wie kaum ein anderer kenne. Sie dürften Recht haben: Seit 2004 ist er Wutachranger und seit 1998 Leiter des Forstreviers Boll, zu dem die Schlucht gehört. Doch schon als Kind hat Martin zwischen Bäumen und Felsbrocken von Deutschlands bekanntester Gebirgsschlucht gespielt:

“Die Wutachschlucht war damals mein Abenteuerspielplatz“,
(Martin Schwenninger)

erinnert er sich. Seine Eltern bewirtschafteten einen kleinen Hof in Bonndorf und damit, dass ihr Sohn mit seinen Freunden „da unten“ umherstreifte, hatten sie kein Problem. Kein Wunder, dass er sich so auskennt. Martin stapft voran, ein kariertes Wanderhemd am Leib und – natürlich – robuste Stiefel an den Füßen. Der schmale Pfad führt durch struppigen Wald, schlägt Zinken, ist voller Buckel, Stufen und Überraschungen. Mal sind wir ganz nah am Wasser, das heute freundlich gurgelt, mal schraubt sich der Pfad den Steilhang hinauf, sodass wir das Flusstal von weit oben überblicken und sehen können, wie tief sich die Wutach im Lauf der Jahrtausende ins Land gegraben hat.

„Das Wasser“, sagt Martin, „ist die Lebensader der Schlucht. Doch als Kind durfte ich nie hinein.“ Baden verboten! Denn damals sei es eine dreckige Brühe gewesen, verschmutzt von den Abwässern der Papierfabrik in Neustadt im Schwarzwald. „Dass es wieder Bachforellen gibt, hätte sich früher keiner vorstellen können." Heute stehen sie ganz still im klaren Wasser und man muss schon stehen bleiben, ganz ruhig sein und vor allem ganz genau hinschauen, um die gut getarnten Tiere zwischen den Kieselsteinen und Felsbrocken zu erkennen.

Mehr als nur Naturschutz

“Für mich ist die Wutachschlucht so was wie die Gute Stube, fast wie ein zweites Zuhause“,
(Martin Schwenninger)

sagt Martin, der im Sommer fast täglich zwischen den Steilwänden der Schlucht zu tun hat, die zwischen 60 bis 170 Meter tief in die umgebende Schwarzwaldlandschaft eingegraben ist und sich über 33 Flusskilometer erstreckt. Als Revierförster kümmert er sich um die forstliche Nutzung des Bergwalds. Und als Wutachranger um den Rest. Und der Rest ist ein ordentliches Stück Arbeit: Neben den „Belangen des Naturschutzes“, koordiniert Martin zum Beispiel die verschiedenen Aktivitäten rund um die Wutachschlucht, in der Schwarzwaldverein, Anliegergemeinden, die Bergwacht oder Landwirte zugange sind, die hier unten zum Beispiel die Wutachwiesen pflegen.

Martin war schon zu jeder Jahres- und zu jeder Uhrzeit in der Schlucht
Martin war schon zu jeder Jahres- und zu jeder Uhrzeit in der Schlucht © Patrick Kunkel

Vor allem aber kümmert sich Martin um Besucherkonzepte und Öffentlichkeitsarbeit. Und diese besteht im wesentlichen aus Führungen. Dass jedes Jahr zwischen 60.000 und 80.000 Menschen durch „seine gute Stube“ laufen, stört ihn dabei überhaupt nicht: „Am Anfang hat es es mich manchmal gewurmt: müssen da so viele durchlaufen? Die gute Stube nimmt doch Schaden. Aber die Leute haben ja alle einen guten Grund, sich die gute Stube mal anzuschauen. Sie ist ja wunderschön und da kann man ruhig stolz drauf sein.“ Zudem führt schließlich nur der eine schmale Pfad durch die Schlucht – was den Naturschützer in Martin freut:

“Ein Großteil des Gebiets ist menschenleer, so haben die Tiere und Pflanzen Freiraum und Ruhe.“
(Martin Schwenninger)

Wie eine gute Schwarzwälder Stube, so hat auch Martins Wutachschlucht einen Herrgottswinkel und eine „Kunscht“, also eine Ofenbank, auf der man es sich gemütlich machen kann: „Die Kunscht sind all die Stellen, wo man sich in Ruhe hinsetzen und es sich gut gehen lassen kann. Je nach Jahreszeit wechselt das, im Herbst ist es oben auf den Felsen, wo man den Sonnenuntergang und das bunt gefleckte Laub der Wälder ansehen kann. Im Frühjahr ist es der Kanadiersteg, wo der Märzenbecher wächst. Im Sommer, wenn es drückend heiß ist, verziehe ich mich liebend gern in die Rötenbachschlucht an die Wasserfälle oder in die Haslachschlucht. Dort ist dann auch nicht so viel los.“

Und die Herrgottswinkel? Sind all jene Orte, wo die Menschen stehenbleiben und staunen, vielleicht auch ehrfürchtig auf die Knie fallen. Der Tannegger Wasserfall etwa, zu dem uns Martin nach einer guten Stunde Wanderung führt. Über 15 Meter tief fällt das Wasser über moosige Wände aus Kalktuff. „Das Wasser ist sehr kalkhaltig“, erklärt Martin, „es rieselt durch das Moos und Kalk lagert sich an den feinen Blättchen ab. Die sterben dann irgendwann ab und übrig bleibt luftiger Kalkstein. Ein prima Baustoff – aber das ist natürlich verboten“, zwinkert er. Über Tuff und Moos fällt das Wasser hinab, in einem feinen Schleier. Und wir bleiben stehen und staunen. Wie es sich für den Herrgottswinkel der Wutachschlucht gehört.

Dass die Wutachschlucht immer wieder als „Grand Canyon Deutschlands“ bezeichnet wird, findet Martin „etwas übertrieben“ - auch wenn die steil aufragenden Kalkwände, vor denen wir gerade stehen, bei vielen diese Assoziation weckt. „Die Felsgalerien sind beeindruckend, aber die Wutachschlucht hat Superlative eigentlich nicht nötig“, sagt der Ranger: „Man kann an einem Wandertag einen Fächer von über 300 Millionen Jahre Erdgeschichte erleben, denn die Wutachschlucht durchschneidet auf ihrem Weg zum Rhein alle geologischen Stufen Süddeutschlands. Das ist grandios. Und außerdem ziemlich einmalig in Deutschland. Ich entdecke immer wieder Neues und dadurch wird die Schlucht nie langweilig.“

Einsatz für die Säge: Nur bei drohender Gefahr für Wanderer greift der Ranger ein
Einsatz für die Säge: Nur bei drohender Gefahr für Wanderer greift der Ranger ein © Patrick Kunkel

Einmalig ist aber auch der Besucherstrom – wir haben einen Tag mitten in den Sommerferien erwischt und als wir an der Schurhammerhütte rasten, stapfen Wandergruppen im Minutentakt an uns vorbei. „Außerhalb der Ferien und unter der Woche ist es immer ruhiger“, sagt Martin, logisch eigentlich. Auch in den Seitentälern ist weniger los, in der Rötenbachschlucht etwa oder der Haslachschlucht. Als wir am Morgen, ehe wir uns mit Martin am Wanderparkplatz an der Schattenmühle trafen, durch die Lotenbachklamm herab in die Wutachschlucht gestiegen waren, sind wir kaum einem Menschen begegnet.

Naturbelassen, wo immer es geht

Dafür hatte uns die enge Klamm gleich nach wenigen Schritten in ihren Bann gezogen: Nur für kurze Zeit fällt Sonnenlicht in die Furche, die der Lotenbach ins Gestein genagt hat. Im Halbschatten gedeihen hellgrüne Moose und Farne, der Bach sprudelt über mehrere Stufen hinab Richtung Wutach und wohin man blickt sieht man ein Gewirr aus umgestürzten, alten Baumstämmen, verrottend und mit Flechten überzogen. Knorrige, bemooste Äste ragen wie spindeldürre Finger aus dem Waldpelz hervor – und dann schickt die Morgensonne ihre frühen Strahlen zwischen den eng stehenden Baumstämmen hindurch. Es ist zum auf die Knie fallen!

„Solche urwaldartigen Zustände sind natürlich kein Zufall“, erklärt Martin, man lasse eben den Wald in der Wutachschlucht weitgehend wachsen, wie er wolle, „um eine Natürlichkeit in der Landschaft herzustellen. Und das Totholz ist auch für viele Pflanzen und Tiere ganz wichtig, die darin ihren Lebensraum finden – Baumpilze, Moose, Insekten, aber auch Spechte zum Beispiel.“ . Nur morsche Äste etwa, die gefährlich über Wandererköpfen baumeln, die entferne man dann schon: „Wir haben ja auch eine Verkehrssicherungspflicht“, sagt Martin. Eine kleine Säge hat er deshalb immer in seinem Rucksack dabei, die auch heute zu einem Kurzeinsatz kommt.

Man kann an einem Wandertag einen Fächer von über 300 Millionen Jahre Erdgeschichte erleben.
Man kann an einem Wandertag einen Fächer von über 300 Millionen Jahre Erdgeschichte erleben. © Patrick Kunkel

Weil sie eine geologische Besonderheit ist, wurde die Wutachschlucht vor 75 Jahren unter Naturschutz gestellt. Kaum vorstellbar, dass all dies nach dem zweiten Weltkrieg auf der Kippe stand, als Anfang der 1950er Jahre die Schluchseewerk AG die Wutach mit einer 62 Meter hohen Mauer aufstauen wollte. Proteste von Naturschützern und 185.000 Unterschriften aus der Bevölkerung verhinderten das Projekt. Auf engstem Raum gedeihen heute hier schätzungsweise 10.000 verschiedene Arten, darunter etwa 1200 Pflanzenarten. Im Luftraum kreisen seltene Rotmilane, nahe des Wassers tummeln sich Wasseramseln und im dichten Unterholz Füchse, Rehwild, Gämsen und manchmal der Luchs. Aber um diese Tiere zu Gesicht zu bekommen, muss man wohl früher als wir aufstehen, sich eine ruhige Ecke suchen – und warten.

Martin war schon zu jeder Jahres- und zu jeder Uhrzeit in der Schlucht und erlebt solche Dinge. Wir dagegen steigen am Ende des Tages an der Wutachmühle in den Wanderbus Richtung Löffingen und dürfen bis zum nächsten Besuch noch ein bisschen träumen.

“Die Wutachschlucht ist einer der reichsten Naturräume Deutschlands“,
(Martin Schwenninger)

schwärmt Martin zum Abschied. Da hat er recht. Und der Job als Wutachranger ist wohl einer der besten im ganzen Land!