Christl Cranz: "Ich konnte das einfach!"
Garmisch-Patenkirchen, 7. Februar 1936. Bei den Olympischen Winterspielen feiert eine neue Disziplin Premiere: Alpine Kombination. Und die Chancen auf einen Medaillengewinn stehen gut: Mit Christl Cranz, die für den Ski-Club Freiburg startet, geht eine der besten deutschen Skiläuferinnen an den Start.
Cranz steht vor dem größten Erfolg ihrer außergewöhnlichen Sportlerkarriere. Die 22-Jährige mit dem athletischen Körperbau, kantigem Gesicht und burschikosem Haarschnitt legt einen fabelhaften Start hin. Mit weit nach vorne gebeugtem Oberkörper fährt sie die 3.300 Meter lange Kreuzeckpiste hinunter. Ihre weiten Hosenbeine flattern um die Beine, ihr Blick ist konzentriert, stets nach der Ideallinie suchend, der offene Mund zeigt Entschlossenheit. Unter dem Jubel der Zuschauer fliegt sie Richtung Ziel.
Dann der Schock: Christl Cranz stürzt. Auf der vereisten Piste rutscht sie in eine Schneeverwehung.
erzählt sie später im Interview. Als die Britin Evelyn Pinching, die ebenfalls auf der Strecke stürzt, an ihr vorbeifährt, schaufelt sich Christl Cranz noch immer aus dem Schnee. Dann fährt sie weiter.
Sie beendet das Rennen, doch der Traum von Olympia scheint geplatzt: Der Sturz kostet sie eine Ewigkeit. Mit ihrer Zeit von 5 Minuten und 23 Sekunden belegt sie den sechsten Platz –19 Sekunden hinter der Erstplatzierten, der Norwegerin Laila Schou-Nilsen.
Doch Christl Cranz gibt sich nicht geschlagen. Für Olympia hat sie hart trainiert. Am steilsten Hang des Feldbergs, der legendären Tauern-Rinne. Dort fuhr sie sogar die besten Skifahrer in Grund und Boden und wurde vierte – als einzige Frau unter lauter Männern. Nein, aufgeben kommt nicht in Frage. Nicht für Christl Cranz.
Die Ski waren doppelt so lang wie Christl
Den eisernen Willen hat Christl Cranz von der Mutter geerbt. Die war nicht nur energisch, sondern praktisch veranlagt. Und sie hatte es satt, immer durch den tiefen Schnee stapfen zu müssen, damals auf der Schwäbischen Alb, im Winter 1918. Als sie von den Brettern hörte, mit denen man über den Schnee gleiten kann, fackelte sie nicht lange und besorgte sich diese neumodischen Bretter, die man Ski nannte und bestellte gleich ein Paar für den Mann und die damals sechsjährige Christl mit. Kinderski kannte man nicht und Christl lernte das Skifahren auf Brettern, die doppelt so groß waren wie sie.
Die Familie siedelte in die Schweiz und zog nach Grindelwald. Für Christl und ihren jüngeren Bruder Rudi das Paradies. Sie bauten Schanzen, übten sich im Skispringen und feilten an der Telemarktechnik. Tollkühn rasten die Geschwister auf den steilsten Hängen und gewannen sämtliche Schülermeisterschaften.
antwortete Christl Cranz in einem Interview lapidar auf die Frage, ob sie eine Naturbegabung sei.
Karrierenstart im Schwarzwald
Christl ist 13 als ihre Eltern nach Freiburg ziehen. Der Schwarzwald wird ihr neues Zuhause, der Feldberg zu ihrem Berg. Auch hier dominieren die Cranz-Geschwister die Schülerrennen. Einem Mann fällt das athletische Mädchen mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck auf: Eugen Winterhalter, Trainer des Ski-Club Freiburg. Er nimmt die ungestüme Christl Cranz unter seine Fittiche und trainiert sie zur erfolgreichen Skirennläuferin. 1931 dann die Sensation: Cranz schlägt die Schwarzwaldmeisterin Lotte Baader beim internationalen Abfahrtsrennen vom Herzogenhorn nach Menzenschwand. 1931, mit 17 Jahren wird die Schwarzwälderin zur gefürchteten Gegnerin auf allen Skipisten.
Im Jahr darauf holt sich Christl Cranz erstmals den Titel der Deutschen Meisterin. Ab 1934 dominiert sie die nationale wie internationale Konkurrenz. Bei sämtlichen nationalen und internationalen Skirennen gibt es nur eine Siegerin – Christl Cranz.
1936 steht die Studentin vor der Krönung ihrer Karriere. Sie weiß, dass sie das Zeug zum Siegen hat. Und sie will Olympiagold – um jeden Preis. Beim Slalomrennen am nächsten Tag gibt sie alles.
Christl Cranz triumphiert in beiden Läufen und deplaziert ihre Konkurrentin mit unglaublichen 21,3 Sekunden. Sie hat das unglaubliche geschafft – sie ist die Gold-Christl. Goldmedaillengewinnerin. Olympiasiegerin.
Ein Schicksalsschlag beendet ihre Laufbahn
Auch ihre berufliche Karriere ist von Erfolg gekrönt: Im Jahr ihres Olympiasieges besteht Cranz ihr Examen zur Sportlehrerin und arbeit am Hochschul-Institut für Leibesübungen in Freiburg. Christls Bruder Rudi, ebenfalls erfolgreiches Mitglied der Skinationalmannschaft, wird 1941 zum Kriegsdienst eingezogen und stirbt an der Ostfront. Sein Tod ist ein herber Schlag für Christl, die nicht nur einen Bruder, sondern ihren liebsten Trainingspartner verliert. Cranz fehlt die Inspiration, eine tiefe Depression lässt sie leer zurück. Mit 27 Jahren beendet sie ihre sportliche Laufbahn und heiratet den Luftwaffenmajor Adolf Borchers.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges verliert sie ihm Rahmen der Entnazifizierung ihre Arbeitsstelle am Institut für Leibesübungen in Freiburg, der sich eine Inhaftierung mit landwirtschaftlicher Zwangsarbeit anschließt. Nach der Entlassung ihres Ehemanns aus der Kriegsgefangenschaft ziehen sie nach Steibis ins Allgäu und gründen dort eine Skischule.
Nach 40 Jahren taucht die verlorene Goldmedaille auf
Kurz vor ihrem 70. Geburtstag erhält Christl Cranz Post aus Frankreich. Der Inhalt: Ihre Olympische Goldmedaille von 1936 und eine Notiz:
Die Medaille war während der Kriegsjahre abhanden gekommen und kehrte nach mehr als 40 Jahren zu der Olympiasiegerin zurück. Heute ist die Medaille Teil der großen Christl Cranz Ausstellung im Skimuseum in Hinterzarten. Christl Cranz stirbt an den Folgen eines Treppensturzes kurz nach ihrem 90. Geburtstag am 28. September 2004 in Steibis.
Ihr Rekord ist bis heute ungebrochen: Mit 12 Goldmedaillen und drei Silbermedaillen ist Christl Cranz die erfolgreichste alpine Skiläuferin aller Zeiten.