Die Tragödie vom Wagnerstal
Lawinen im Schwarzwald? Diese Gefahr wird regelmäßig unterschätzt. Dabei war der Hochschwarzwald einst Schauplatz des bis heute schwersten Lawinenunglücks in Deutschland. Die Umstände, die im Jahr 1844 zur völligen Zerstörung des Königenhofs bei Neukirch führten, liefern seither Stoff für Mythen und Legenden, die immer wieder in Berichten, Büchern und Theaterstücken aufgegriffen werden – und dafür sorgen, dass das Unglück bis heute bei den Menschen in der Region präsent bleibt.
Diesen Feierabend hatte sich Philipp Beha redlich verdient. Es war der 24. Februar 1844 um kurz nach 21 Uhr. Bis gerade eben hatte er in der Werkstatt geschuftet und gemeinsam mit den beiden Söhnen im Akkord Uhrengehäuse zusammengebaut, obwohl Sonntag war. Die Auftragsbücher quollen über. Uhren aus dem Schwarzwald waren ein Exportschlager, Händler aus der Gegend rund um Furtwangen verkauften ihre begehrte Ware bis nach London oder ins Zarenreich.
Beha wärmte seinen von Kälte und Arbeit geschundenen Leib am Kachelofen und ließ sich von seiner Frau einen Krug Most darreichen. „Wo sind die Buben?“, fragte Maria. „Wo sollen sie schon sein?“, entgegnete Beha und nahm einen kräftigen Schluck. Er war es leid, jeden Abend dieselbe Diskussion führen zu müssen.
Behas Frau konnte es nicht ertragen, wenn ihre Söhne auf dem Königenhof verkehrten, beim viel gescholtenen Tritschler Martin. Ein hundsgemeiner Unhold sei der, ein Gottloser und obendrein ein Zugezogener, der bis über beide Ohren in Spielschulden stecke und nun die Jugend mit diesen neumodischen Teufelskarten, die badische Soldaten aus dem Napoleon-Krieg in Spanien eingeschleppt hatten, verdarb. Das Spiel nenne sich Cego und sei völlig ungefährlich, versuchte Beha seine Frau zu besänftigen, und bei den Schulden handle es sich lediglich um ein dummes Gerücht und nur, weil jemand hin und wieder im Alltag fluche, heiße das noch lange nicht, dass er vom Glauben abgefallen sei. „Also reg dich nicht auf, Frau!“ Der Vollständigkeit halber hätte er noch hinzufügen können, dass es ihre Buben weniger des alten Tritschlers wegen ständig in die Nachbarschaft zog. Ihr Jüngster, Philipp junior, hatte nämlich ein Auge auf die schöne Tritschler-Tochter Bibiane geworfen. Sein Vater konnte es ihm nicht verdenken.
Beha goss Most nach. Er fragte sich, warum Tritschler immer noch in einem so schlechten Ruf stand, wo er doch schon seit elf Jahren im Tal lebte. Zugegeben, er hatte keinen guten Einstand. Als er 1833 von Urach ins Wagnerstal nahe Neukirch zog, das aus weniger als einer Handvoll Häusern und einer Kapelle bestand, ließ er am Königenhof ringsum den Wald abholzen. Der versündige sich, hatten die Leute damals gesagt. Aber der Tritschler erlag nur wie so viele andere der Versuchung des Geldes.
Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft waren viele Schwarzwälder Bauern in den Besitz von Forstbeständen gekommen. Seitdem zogen Holzhändler aus dem Elsass von Hof zu Hof und machten den neuen Waldeigentümern unmoralische Angebote. Die Folge war ein Kahlhieb, von dem sich der Schwarzwald erst in vielen Generationen würde erholen können. Beha hielt nichts vom Moralisieren. Aber auch er hätte Tritschler von der Rodung am Steilhang abgeraten. Gerade an schneereichen Tagen wie diesen boten die Bäume den einzigen Schutz. Beha schaute nach draußen. Den ganzen Tag über regnete es schon. Einen solchen Wetterumbruch hatte er selten erlebt. Seit Neujahr hatte es das Tal quasi ohne Unterbrechung zugeschneit, und nun tauten die zwei Meter hohen Massen schlagartig.
Von Behas Anwesen lag der Königenhof nur einen Steinwurf talwärts entfernt. An diesem Abend saßen Trischtler, zwei seiner Söhne, ein Mitbewohner und die beiden Beha-Buben Philipp und Blasius am großen Stubentisch und klopften Cego. Philipp tauschte immer wieder Blicke mit Bibiane, die mit ihren Schwestern von der Ofenbank aus den Männern beim Kartenspiel zuguckten. Allerdings unter der Bedingung, die mostselige Männerrunde nicht noch einmal zu stören. Am frühen Abend hatten die jungen Frauen nämlich Alarm geschlagen, nachdem eine kleine Lawine den Immenstand nebenan mit sich gerissen hatte. „Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen“, spottete Martin Tritschler.
Gegen 22 Uhr verabschiedeten sich die Töchter in ihre Schlafgemächer. Bibianes Lächeln brachte Philipp derart aus dem Konzept, dass ihm in dieser Spielrunde der „kleine Mann“, eine wichtige Trumpfkarte, verloren ging. Dafür bekam er den Ellbogen seines großen Bruders zu spüren. „Der Gstieß ist mein Herrgott“, rief unterdessen Martin Tritschler triumphierend, als er mit dem „Gstieß“, dem höchsten Trumpf beim Cego, einen Stich machte.
Philipp Beha und seine Frau schliefen da bereits tief. Um 23 Uhr wurde Maria von einem Geräusch aufgeschreckt. Ein seltsames „Schausen“. Sie tippte ihren Mann an. „Hast du das gehört?“ Er schüttelte den Kopf und schlief weiter. Doch irgendetwas ließ ihm keine Ruhe. Um vier Uhr stand er auf und sah nach den Söhnen. Ihre Betten waren leer. Er zog sich einen Mantel über und begab sich mit einer Öllampe hinab ins Tal. Der Anblick, der sich ihm im Halbdunkel bot, ließ ihm den Atem stocken. Wo der stolze Königenhof einst stand, war nichts mehr. Er war weg. Begraben unter der verheerendsten Lawine, die den Schwarzwald je erschüttert hat.
Beha fing sofort an zu graben. Seine Frau kam hinzu. Aus der Tiefe drangen Rufe. Es war Bibianes Stimme. „Wir vier leben noch“, rief sie. Bibiane und drei ihrer Schwestern waren von dem Schneegeschoss, das sie in der Nacht überraschte, aus dem Schlafzimmer in den Stall katapultiert worden, wo sie in einem Hohlraum unter Balken überlebten. Mit Geschick schaffte sie es, sich zu befreien. Den Behas gelang die Bergung der drei anderen Schwestern. Die Mutter brachte alle vier in ihr Haus und versorgte sie. Unterdessen grub Philipp Beha weiter wie ein Besessener. Gegen 6.30 Uhr wurde er von weiteren Helfern aus dem Dorf unterstützt. Das Unglück sprach sich in Neukirch nun schnell herum. Unter dem Geröll hallten Schreie von Mensch und Vieh hervor und durch die Dunkelheit des Tals. Dann ein vertrauter Hilferuf. Beha buddelte einen Kopf frei. „Hilf mir, Vater.“ Sein Bub lebte. Doch der Körper von Philipp junior steckte fest. Mehrere Männer kämpften gegen die Masse und die Zeit. Ein Temperatursturz ließ den Schnee hart werden wie Stein. Immer wieder verlor der Junge das Bewusstsein. „Durchhalten, Bub!“, beschwor ihn sein Vater. Um 15 Uhr hatten sie ihn endlich ausgegraben. Sein Gesicht war blau, die Lippen starr. Er sah zu seinem Vater und bat um Handschuhe. Sie brachten ihn in sein Elternhaus, wo er ein letztes Mal auf Bibiane traf. Eine Stunde rang er noch mit dem Tod, dann gab er auf.
Eine ganze Woche verging, bis alle 17 Toten geborgen waren. Darunter auch Behas Sohn Blasius. Am großen Leichenzug zum Neukircher Friedhof, auf dem später eine Gedenktafel errichtet wurde, beteiligten sich Menschen aus nah und fern. Eine ganze Region stand unter Schock. Spenden wurden gesammelt für die verwaisten Tritschler-Kinder. Doch das Trauma saß tief. Auch bei Philipp Beha. Ein Jahr, nachdem ihm die Lawine beide Söhne genommen hatte, verließ er das Wagnerstal und kehrte nie mehr zurück.
Informationen:
In schneereichen Wintern gibt es im Hochschwarzwald auch heute noch regelmäßig Lawinenabgänge, die mitunter Menschen verschütten. Besonders gefährdet sind die unbewaldeten Steilhänge am Herzogenhorn und im Feldberggebiet am Zastler Loch, am Baldenweger Buck sowie am Seebuck oberhalb des Feldseekars. Viele Wintersportler neigen dazu, die Risiken zu unterschätzen.
Lawinenkurstag:
Gefahren erkennen, Risiken vorbeugen und das Vorgehen bei einem Lawinenunfall - all das vermitteln Experten den Kursteilnehmern beim Lawinenkurstag, der jedes Jahr Anfang Januar in der Bergwelt Todtnau stattfindet.