Blick vom Stübenwasen

Es war einmal ein Müllersohn

Wie ein Todtnauer die Bürstenfertigung revolutionierte
22.01.2020

von Florian Kech

Ob Zahnbürsten, Schuhbürsten oder Haarbürsten – seit Jahrhunderten gilt Todtnau als Hauptstadt der Bürstenherstellung. Wie konnte das kleine Bergstädtchen zum Bürsten-Mekka werden? Die Initialzündung erfolgte vor 250 Jahren durch eine bahnbrechende Erfindung eines jungen Mannes.

Friedrich Busse ist einer der wenigen, die es noch draufhaben: von Hand eine Bürste zu fertigen. „Kein Härle darf länger oder kürzer als das andere sein“, erklärt er. Und auf gar keinen Fall dürfe man die Borsten nachschneiden. Damit begeht man gleichsam eine Todsünde für Bürstenmacher. Wer Busse zuhört, erkennt bald: Bürstenmachen ist eine Wissenschaft für sich. Sein etwas aus der Mode gekommenes Können zeigt der Ruheständler, der sein ganzes Berufsleben diesem Handwerk verschrieben hat, regelmäßig auf Messen oder anderen Anlässen.

Friedrich Busse fertigt Bürsten noch von Hand
Friedrich Busse fertigt Bürsten noch von Hand © Florian Kech

Busse sitzt an einer alten Werkbank, inmitten von Hobelmaschinen, Fräsen und Bohrern aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In der stillgelegten Bürstenfabrik Wissler, gegründet 1840 und damit wohl die erste ihrer Art, hat er zusammen mit dem Verein Kulturhaus Todtnau die Vergangenheit konserviert. An einem Zahoransky-Fabrikat steht ein hochgewachsener Mann mit grauem Schnurrbart. Es ist Rainer Zahoransky, Ingenieur und Enkel des erfolgreichen Firmengründers Anton. „Mit dieser Maschine gelang uns zum ersten Mal die gekreuzte Schlingenbefestigung“, fachsimpelt er. „Das war der Durchbruch. Von da an galt Maschinenware nicht mehr als Schundware, sondern war genauso gut wie die handgefertigten Bürsten“, sagt Zahoransky und fügt schmunzelnd hinzu, dass ihm „der Herr Busse da wahrscheinlich widersprechen wird“. Herr Busse nickt entschieden mit dem Kopf.

Einig sind sich die beiden aber über die heimatprägende Bedeutung der Bürstenindustrie für das obere Wiesental. Keller, Sättele oder Faller sind heute noch klangvolle Namen von Bürstenfabrikanten, ebenso Ebser und Zahoransky, die sich inzwischen zu Weltmarktführern im Bau von Maschinen zur Bürstenherstellung entwickelt haben. Todtnau ohne Bürsten wäre ungefähr wie Stuttgart ohne Daimler oder Rothaus ohne Tannenzäpfle. Wie aber konnte das Städtchen zwischen Feldberg und Belchen zur Bürstenmetropole aufsteigen? Auch in dieser Frage gibt es bei Busse und Zahoransky keine zwei Meinungen: Der Vater des Erfolges – das weiß in Todtnau ein jedes Kind – war ein gewisser Leodegar Thoma.

In der stillgelegten Bürstenfabrik Wissler in Todtnau wird Vergangenheit lebendig. Rainer Zahoransky, Enkel des Bürstenmaschinen-Herstellers Anton Zahoransky, demonstriert, wie die Menschen früher Bürsten fertigten
In der stillgelegten Bürstenfabrik Wissler in Todtnau wird Vergangenheit lebendig. Rainer Zahoransky, Enkel des Bürstenmaschinen-Herstellers Anton Zahoransky, demonstriert, wie die Menschen früher Bürsten fertigten © Florian Kech

Am Anfang stand die Suche nach Effizienz

Thoma, 1747 geboren, wächst als Sohn eines Müllers auf. Die Geschäfte laufen mal schlecht, mal recht. Doch dann kommt es zu einem Vorfall, der seinem Vater wirtschaftlich das Genick bricht: Das in Freiburg stationierte österreichische Heer hat nach einer Mehlgroßlieferung einfach die Zeche geprellt und sich aus dem Staub gemacht. Auf einem Schuldenberg sitzend, sieht der Müller sich gezwungen, sein Anwesen zu verkaufen. Er packt seine Sachen und wandert mit Kind und Kegel ins Elsass aus. Leodegar ist da 13 Jahre alt.

In Mühlhausen wagt sein Vater einen Neuanfang und kauft erneut eine Mühle, in der die ganze Familie mit anpacken muss. Die älteren Brüder sind für das Grobe zuständig, das Schleppen und Umfüllen der Mehl- und Getreidesäcke. Leodegar, der Benjamin, sorgt für Sauberkeit. Wenn die anderen Feierabend machen, ist er oft noch stundenlang damit beschäftigt, den Mehlstaub von der Kleidung zu klopfen und vom Boden zu schaben. Besonders fies sind die Ritzen. Leodegar hasst diese Sisyphusarbeit. Es muss doch einen Weg geben, den Job effizienter zu verrichten. Wie erreicht man eine Zeitersparnis, die nicht auf Kosten der Gründlichkeit geht?

Eines Tages nimmt er ein Stück Holz, bohrt von Hand Löcher hinein und füllt diese bündelweise mit Schweineborsten, die er mit einem Holzstäbchen befestigt. Der junge Todtnauer Tüftler hat soeben seine erste Bürste hergestellt. Zwar hatten das Hilfsmittel wohl schon die alten Ägypter genutzt, und auch im Raum Nürnberg waren seit dem Mittelalter Bürsten im Einsatz – aber im Schwarzwald und im Elsass stellt das Patent aus dem Hause Thoma eine kleine technische Revolution dar. Andere Müller staunen nicht schlecht über das Teil, sie wollen nun auch so ein praktisches Borstenholz haben. Aus dem Müllergesellen wird auf einen Schlag ein Kleinunternehmer. Doch der Familienbetrieb steht immer noch an erster Stelle.

Mit 23 erleidet Leodegar bei einem Ausritt mit dem Pferd seines Onkels einen schweren Sturz und zieht sich eine Verletzung am Kopf zu. An körperliche Arbeit in der Mühle ist bis auf Weiteres nicht mehr zu denken. Also zieht Leodegar zurück nach Todtnau, wo er anfängt, mit Kühen und Ziegen zu handeln. Nebenbei fertigt er weiterhin seine Bürsten, die er inzwischen weiterentwickelt hat. Nun sind die Hölzer durchbohrt und die Borsten mit Schnur oder Draht befestigt. Doch erneut stellt er sich die Effizienzfrage: Wie kann er seine Ware mit weniger Aufwand in noch größeren Mengen produzieren?

Das Zauberwort heißt Arbeitsteilung. Der Erste formt und bohrt das Bürstenholz, der Zweite sammelt die Borsten, der Dritte bindet sie, der Vierte zieht sie durch die Holzlöcher, der Fünfte verpicht die Borsten, indem er sie mit flüssigem Pech befestigt – und fertig ist die erste arbeitsteilig hergestellte Bürste. Durch die Spezialisierung lässt sich nicht nur die Masse, sondern auch die Klasse steigern. Die Einführung dieser Methode ein Jahr nach seinem Reitunfall, 1770, macht Leodegar Thoma endgültig zum Pionier.

Handwerk mit Spitzengefühl: Früher wurden die Borsten von Hand in das Bürstenholz eingezogen
Handwerk mit Spitzengefühl: Früher wurden die Borsten von Hand in das Bürstenholz eingezogen © Archiv Benno Dörflinger

Für Todtnau war der junge Industriezweig ein Glücksfall

Die Bauern im Wiesental leiden derweil unter mehreren aufeinanderfolgenden Missernten. Auch die Bergmänner nagen am Hungertuch. Vergeblich haben sie in den Silberminen nach unentdeckten Erzvorkommen gegraben. Mitten in der Silberkrise kommt der junge Thoma mit seinen Bürsten goldrichtig. Durch die Arbeitsteilung hält im Ort ein ökonomischer Gemeinsinn Einzug, von dem alle profitieren. Gut 200 Jahre später wird der Todtnauer Chronist Benno Dörflinger in seinem Buch „Eine Idee setzt sich durch“ den damaligen Schönauer Amtmann zitieren: „Alle arbeiteten nach einerlei Muster, als wenn sie unter der Aufsicht eines einzelnen stünden. Hat einer eine neue Methode ausfindig gemacht, eine andere Art Bürsten erfunden oder besondere Vorteile entdeckt, so hält er damit nicht zurück, sondern teilt einem jeden, der ihn darum fragt, seine neuen Handgriffe und Verbesserungen mit.“

Im Jahr 1772 erhält Leodegar Thoma dann eine gigantische Bestellung. Sie kommt vom selben Absender, der zwölf Jahre zuvor seinen Vater in den Ruin getrieben hat. Die österreichische Militärkompanie in Freiburg ordert bei ihm Rossbürsten, und zwar in so reicher Zahl, wie er herzustellen vermag. Trotz der schlechten Erfahrungen mit dem Auftraggeber geht Thoma den Deal ein. Das Problem ist nur: Wo bekommt er auf die Schnelle die benötigte Menge an Schweineborsten her? Sämtliche Metzger im Gäu klappert er ab. Bei vielen hat er Pech, denn für sie sind die Borsten nichts weiter als ein Abfallprodukt. Woher sollten sie auch wissen, dass sich damit inzwischen Geld verdienen lässt? Nach intensiven Arbeitswochen liefert Thoma schließlich 50 Rossbürsten in Freiburg ab. Der Auftraggeber ist hochzufrieden und begleicht diesmal auch seine Rechnung.

Bald sieht man den Todtnauer Bürstenherstellern ihren zunehmenden Wohlstand an. Das wiederum motiviert weitere Dorfbewohner zum Einstieg in das junge Gewerbe. Leodegar baut an exponierter Lage an der Hohenhalde, wo früher ein wohlhabender Bergbauunternehmer residierte, einen Schwarzwaldhof. Dieser ist so beeindruckend, dass der Komponist Felix Mendelsohn-Bartholdy auf eine Durchreise eine Skizze davon anfertigt. 1876 brennt der Prachtbau komplett nieder. Doch Leodegars Vermächtnis hält dem Feuer stand, und seine Idee lebt in den großen Todtnauer Bürstenfabriken bis zum heutigen Tag weiter.

Bürsten der ehemaligen Fabrik Wissler
Bürsten der ehemaligen Fabrik Wissler © Florian Kech

250 Jahre Bürstenindustrie

Die Einführung der arbeitsteiligen Produktion machte Leodegar Thoma 1770 zum Pionier der Bürstenindustrie. Die Bergwelt Todtnau feiert den 250. Jahrestag dieser Erfindung am 27. September 2020 im Rahmen eines Naturparkmarkts. An diesem Termin soll auch das neue Bürstenmuseum seine Pforten öffnen. Weitere Veranstaltungen zum Jubiläum gibt es das ganze Jahr über, etwa geführten Wanderungen auf den Spuren der Todtnauer Bürsten (ab 1. April an jedem ersten Mittwoch im Monat).