Strohschuhe fürs Leben
Sie sitzt auf der Kuscht, der alten Ofenbank, und tut das, was sie schon mehr als eintausend Mal gemacht hat: Sie fertigt Finken, die im Schwarzwald typischen Hausschuhe aus Stroh. An den Füßen trägt Hannelore Winker das Paar, das sie vor fast zwei Jahrzehnten hergestellt hat, nachdem sie in einem Kurs der Landfrauen das alte Handwerk gelernt hatte. Sie sind der beste Beweis für die Langlebigkeit dieser Hausschuhe, die manch Beziehung überdauern, wobei die Ehe der 46-jährigen schon einige Jahre länger hält als die Schuhe an ihren Füßen.
Sie sind so typisch für den Schwarzwald, dass ihnen in einem alemannischen Gedicht über eine „Strohschueh-Verkäuferin“ sogar ein Denkmal gesetzt wurde. Wer die Zeilen wann erdacht und aufgeschrieben hat, ist nicht überliefert.
Was nutzt s dir, was du häsch un bisch,
wenn friersch un fast vergütterlich
un d Kälti stigt dir us de Bei
in d Händ un macht si schwer wie Stei
un z müed, zuem andre winke?
-Kaufet warmi Finke –
Sell isch nit einerlei.
Hannelore Winker wohnt in Kappel, einem 800 Einwohner zählenden Ortsteil von Lenzkirch, wo sie geboren wurde. Draußen ist sie umgeben von grünen Wiesen und schwarzem Wald. Drinnen in ihrer Arbeitsstube mit dem blauen Kachelofen und den Bauernschränken bestimmen die Materialien für die Strohschuhe das Bild. In einer beleuchteten Glasvitrine - sie ist das Gesellenstück einer ihrer zwei Söhne, der Tischler gelernt hat – sind Dutzende fertige Strohschuhe aufgereiht, winzig kleine für Puppen, kleine für Kinder, große für Erwachsene. In Schubladen liegen das braune, schwarze und dunkelblaue Leder für die Sohlen und Dutzende verschiedene Stoffmuster für die Ränder. Am Ofen hängt ein langes Bund Maisstroh, über einer Stuhllehne baumelt bereits zu langen Zöpfen geflochtenes Stroh. Auf einem Bügelbrett stehen dunkelgrüne Leisten aus Hartplastik, die mit schwarzem Wollstoff überzogen sind. Daneben liegt eine Rolle Wachsfaden, mit dem die Schuhe zusammen genäht werden und eine dicke Rundnadel, wie sie Polsterer verwenden, die Hannelore Winker benutzt.
Die gelernte Apothekenhelferin war viele Jahre zu Hause und hat sich um die Kinder gekümmert, zwei Jungs und ein Mädchen, die jetzt erwachsen sind. „Ich war schon immer häuslich und wollte früh heiraten“, erzählt sie freimütig. Dafür, dass sie mit den Strohschuhen anfing, hat sie nur eine Vermutung: „Das musste wahrscheinlich so sein.“ Immer, wenn sie Zeit hat, greift Hannelore Winker, die einige Stunden in der Woche als Servicekraft in einem Hotel arbeitet, zum Stroh. „Manchmal gleich nach dem Aufstehen“, gesteht sie lachend. Am meisten zu tun hat sie vor Weihnachten und vor Fasnacht. Für Narrenzünfte fertigt sie Strohschuhe für draußen an, deren Sohlen aus ausrangierten Gummireifen bestehen. Und mit sinkenden Temperaturen erhält sie zunehmend Privatbestellungen. „Die Leute rufen an und sagen, Frau Winker, es wird kalt!“ Sie muss nur die Schuhgröße wissen, ob die rutschfeste Ledersohle schwarz, braun oder dunkelblau sein, welche Farbe, welches Muster der Stoffrand haben soll. Werden die Schuhe für Garten und Hof gebraucht, verpasst sie eine Gummisohle.
Wenn diini Füeß mit Lackschueh plogsch,
was bringt dir sell? Wenn umehocksch
wenn älter wirsch, un d Knie dien weh.
No muesch di andre tanze seh
un selber chasch bloß hinke,
-Kaufet warmi Finke –
als s Geld im Dokter geh.
Früher wurden die Strohschuhe aus Roggenstroh gefertigt, das eingeweicht werden musste und leicht brach. Hannelore Winker verwendet Maisstroh, andere nehmen Hanf oder Bast. Ein Strohbündel reicht für 2,5 Paar Schuhe, pro Paar braucht Hannelore Winker acht bis zehn Meter. Ihre Schwiegermutter hilft ihr, das Stroh zu Zöpfen zu flechten, dann legt sie über die Leisten schwarzen Wollstoff, auf den sie die Strohzöpfe näht. Dieser Arbeitsgang ist ihr der Liebste. „Da sieht man, wie der Schuh entsteht.“ Schaut sie abends fern, muss sie Strohschuhe machen. „Sonst schlafe ich ein.“ So wird es schnell Mitternacht oder später.
Heimat spielt im Leben von Hannelore Winker eine große Rolle, auch wenn sie selbst keine großen Worte darüber macht. „Der Schwarzwald“ sagt sie nach einer kurzen Pause, „ja, das ist mein Ort“. Heimat ist für sie das 300 Jahre alte Haus, in das sie zu ihrem Mann gezogen ist, als sie geheiratet haben. Geht es in den Urlaub, reicht ihr das nahegelegene Allgäu oder der Bodensee, kurz: „der hiesige Raum“. Zu ihrer Heimat gehört auch das Essen, die Mentalität der Menschen, das Ländliche, die Nähe zum Wald. Nur eins, betont Hannelore Winker, gehört nicht zu ihrer Heimat: die roten Bollen. Der Bollenhut war nur in drei der Schwarzwaldgemeinden Teil der Tracht. „Hochschwarzwälder Strohschuhe mit Bollen“, ruft sie von der Ofenbank, „da weigere ich mich!“
S isch nit bloß Leder, Zwirn un Strauh,
s isch Summersunne drin un Tau
un Morgeliecht un Mähderschritt
un mänke Stupf un mänke Schnitt
vo Schaffhänd, wiseliflinke
-Kaufet warmi Finke–
Sell reut euch sicher nit.
Ihre Heimatverbundenheit sind keine Lippenbekenntnisse. Seit vielen Jahren ist Hannelore Winker Mitglied im Heimatverein Kappel, dessen Vorsitzender ihr Mann ist, ein Tischler, der seit seinem zwölften Lebensjahr dem Verein angehört. Hannelore Winker begleitet mit ihrem Instrument, das auch in ihrem Arbeitszimmer steht, die Tanzgruppe des Heimatvereins. Mit acht Jahren fing sie an, diatonische Harmonika zu spielen, ein Knopfgriffakkordeon. Im Unterschied zu einem normalen Akkordeon hat es keine Tasten, sondern Knöpfe. Zug und Druck erzeugen zudem verschiedene Töne. Winker hat das Instrument von ihrem Vater, der jetzt 86 Jahre alt ist und vor drei Jahren beschloss, nur noch zuzuhören.
Do! Lueget s a! s isch besti war!
S sin alli handgmacht, Paar m Paar.
Un wenn mir in de Politik
au paarwies gieng im Augeblick
e Rechte un e Linke
-Kaufet warmi Finke–
für s Volk wärs denk e Glück!
Für ihr erstes Paar Strohschuhe hat Hannelore Winker zwölf Stunden gebraucht. Heute ist sie in sechs bis sieben Stunden fertig. Wie viele Finken sie bisher gefertigt hat, weiß Hannelore Winker nicht aus dem Kopf. Sie wirft einen Blick in das Büchlein, in das sie fein säuberlich per Hand ihre Aufträge einträgt, blättert durch die Seiten und schätzt: „Es werden etwa eintausend sein.“ S sin alli handgmacht, wie es in dem alemannischen Gedicht heißt. Wer Finke kauft, auch da bewahrheiten sich die überlieferten Zeilen, bereut es nicht. Sell reut euch sicher nit.
Für s Volk wär s guet, si täte meh
de ander, statt sich selber seh.
Daß mer enander Wärmi schenkt
isch wichtig, nit in Beutel längt
un melche duet un ginke.
-Kaufet warmi Finke –
s würd kälter als mer denkt!