
Süße Geheimnisse
Die Todtmooser werden im Volksmund seit jeher „Lebküchler“ genannt. Wer sich auf die Suche nach den Ursprüngen dieses Namens macht, stößt auf den Dreiklang Wunder, Wallfahrt, Wegzehrung – und landet in zwei der Backstuben im Ort.
Wie das duftet! Sind das Kardamom, Koriander und Nelke, deren Duft dem Teig verführerisch entsteigen und ihren Weg in die Nase finden? „Das Rezept kann ich natürlich nicht verraten“, sagt Alexander Matt und schmunzelt, „aber das hier, das ist der Lagerteig.“ Er deutet auf die hellbraune Teigmasse, die mit Honig, Weizen-, Roggenmehl und den Gewürzen angesetzt wird und dann erst einmal drei Monate lang im Keller lagert. „Durch die Lagerung entwickelt sich der Geschmack besser“, erklärt Matt. Er holt den Teig aus dem Rührwerk, knetet und arbeitet ihn von Hand nochmals durch und rollt die feste Masse aus. Dann setzt Matt ein Nudelholz mit integrierten Teigschneideröllchen an, das aus der Teigmasse die typischen Vierecke macht. In Reih und Glied, wie eine süße Lebkuchenarmee, setzt Matt die Teigstücke auf ein Backblech, bepinselt sie mit Eigelb und krönt die Stückchen mit je einer halben Mandel in der Mitte. Geschätzt 9000 Kilo Lebkuchenteig hat er in seinem Leben wohl schon verarbeitet und in den Ofen geschoben – so auch die Lebkuchenfuhre vom heutigen Tag. Fünf Minuten wandert das Gebäck bei 250 Grad in den Ofen. „Man kann es jederzeit zu Hause nachbacken“, sagt Matt – tja, wenn man dann das Rezept hätte.
Streng gehütete Rezepte
Alexander Matt, der das 1913 gegründete Café Zimmermann in 4. Generation leitet, backt die Lebkuchen nach Originalrezept, streng gehütet und seit Jahrzehnten im Familienbesitz. Es stammt noch von seinen Vorfahren, erzählt er, von den Brüdern Johann Zimmermann und dem „Herrennmüllersepp“ Josef Zimmermann, die die Herrenmühle betrieben, dort Mehl produzierten und ab 1911 eine Manufaktur für Nudeln und Lebkuchen führten. Letzterer hatte als nahrhafte Wegzehrung und beliebtes Mitbringsel unter den Pilgern das ganze Jahr über Saison. Vom Geschmack her sind die Todtmooser Lebkuchen ein bisschen anders als ihre Nürnberger Weihnachtskollegen, kommen zwar vollmundig, aber weniger süß daher.

Auch Franz Bockstaller, den zweiten Konditor im Ort, der noch heute die alte Tradition pflegt, findet man – natürlich – in seiner Backstube. Wie sein Kollege bäckt auch Bockstaller nach einem alten Rezept. „Wir haben unser Todtmooser Lebkuchenrezept vom Bäcker und Konditor Jakob Seufert, es entstand um 1900“, erzählt Bockstaller. Nach Seuferts Tod kamen dessen Rezeptbücher ins Heimatmuseum und Bockstaller konnte Auszüge aus dem Rezeptbuch ergattern.
Sie sprechen eine eigene Sprache, die alten Rezepte, von Maßeinheiten wie Lot und Stein, Karat und Quäntchen ist darin die Rede – und von viel Honig, dessen Anteil am Lebkuchen 50 Prozent sein sollte. „Wenn man Honigteig macht, muss man zuerst Honig auf 80 Grad erhitzen, wieder abkühlen lassen auf 30 Grad, dann kommt die Mehlmischung dazu. Denn wenn man den Honig nicht erwärmt, kann es sein, dass sich Zuckerkristalle bilden“, gibt Bockstaller als Tipp mit, doch mehr verrät auch er nicht, während er die Lebkuchenvierecke mit Eigelb bestreicht, die halbe Mandel in die Mitte setzt und anschließend das Blech in den Ofen schiebt.

Pilgerspeise und Lebkuchenweiblein
Früher waren es neben den Bäckern die Frauen im Ort, die sich mit dem Lebkuchen ein Zubrot verdienten. Denn sie kamen auf die Idee, den Pilgern, die sich nach dem Gebet in der Wallfahrtskirche auf den langen Heimweg machten, etwas Nahrhaftes mitzugeben. Also buken die Todtmooser Frauen den ebenso leckeren wie haltbaren Lebkuchen im heimischen Ofen und verkauften ihn an den Wallfahrtsständen neben dem steilen Anstieg zur Kirche.

Und die geschäftstüchtigen Frauen im Dorf waren es auch, die einen zweiten Brauch begründeten, der mit der Vorweihnachtszeit zusammenhängt: Die sogenannten Lebkuchenweiblein kauften bei den örtlichen Bäckern Hunderte von Lebkuchen ein und zogen damit durch die ärmlichen Gegenden des Schwarzwalds. Dort waren sie gerne gesehen, denn sie brachten mit dem beliebten weihnachtlichen Gebäck gleichzeitig den Weihnachtsduft in die Stuben. Den Älteren im Ort sind die Frauen, die dabei beachtliche Strecken zurücklegten, noch heute ein Begriff: „Unser Lebkuchenweiblein, das war die Frau Roschott. Sie ist im November gekommen, hat eine lange Schürze angehabt und links und rechts die Lebkuchen reingesteckt“, erinnert sich Gerhard Matt, der Vater von Bäcker Alexander Matt. Und auch Otto Siegwart, der Schwiegervater von Bäcker Franz Bockstaller, sitzt gerne auf der Eckbank und lässt mit seinen lebendigen Erzählungen die Lebkuchenweiblein wieder auferstehen.
Vom „pestilenzischen Sumpf“ zum Luftkurort
Will man indes wissen, wie die Schwarzwaldgemeinde zu ihrer Wallfahrtstradition kam, muss man noch viel weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Begonnen hat die Geschichte einer der bedeutendsten süddeutschen Marienwallfahrtstätten mit einer Legende: „Ein grausam pestilenzischer Sumpf“ soll über der damals ausgestorbenen, unwirtlichen Landschaft gelegen haben. Schließlich erschien anno 1255 dem Leutpriester Dietrich von Rickenbach die Gottesmutter und hieß ihn, eine Tanne zu fällen und eine Kapelle zu bauen, um den Fluch von der Gegend zu nehmen. Von Rickenbach baute die Kapelle und nahm dem „toten Moos“ so seinen Fluch. Aus dem hölzernen wurde um 1268 ein steinernes Gotteshaus; seit 1632 reckt die später erweiterte und barockisierte Wallfahrtskirche „Unserer lieben Frau“ ihre Zwiebeltürme gen Himmel.
Von etlichen Wundern wird in alten Wallfahrtsbüchern geschrieben. Noch heute zieht es die Leute nach Todtmoos, doch längst nicht nur an den imposanten Marienaltar. Als heilklimatischer Kurort erlebte Todtmoos um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Aufschwung als Heilstätte für Tuberkulosekranke. Heute wandern Naturliebhaber und Aktivurlauber den als Genießerpfad ausgezeichneten Lebküchlerweg, genießen die gute Luft und rund 45 Loipenkilometer – und lassen sich von der Fasnachtsclique der Lebküchler mit den feinen Gebäcktafeln beschenken.
