„Die Blickführung ist gaaaaanz wichtig“, meint Kalle.

Stilübungen für Mountainbiker im Schrägschwarzwald

Schokoladenfuß vorn! Und bloß nicht nicht in den Abgrund schauen...
24.09.2021

von Patrick Kunkel

Der Hang ist steil. Zu steil. Zu sechst stehen wir mitten im höchsten, schönsten und vor allem schrägsten Hochschwarzwald. Unter uns Serpentinen. Gleich mehrere Spitzkehren hintereinander. Jäh abfallend. Und scheinbar unfahrbar. Die Mountainbikes haben wir vorsichtshalber abgelegt und starren nun auf den schmalen Pfad unter uns. Der kaum breiter ist als ein Badetuch, dafür mit umso engeren Kurvenradien und umso gezackteren Granitbröckchen, die dessen Oberfläche verzieren.

Ein Kuckuck ruft. Blätter rauschen. Es duftet harzig frisch. Das alles zählt nicht, jetzt nicht. „Das ist wie ein Verkehrsunfall“, murmelt Lars neben mir: „Da will man auch nicht hinschauen und macht's trotzdem.“ Wir blicken weiter runter.

Wenige Meter neben uns strebt die Hinterzartener Rothaus-Skischanze in einem kühnen Bogen den Hang hinab. Als wolle sie demonstrieren, dass es hier wirklich, ja, wirklich steil ist. Die Schanze, belegt mit sommerlich grünen Matten, hat eine Neigung von 35 Grad, unser Hang kaum weniger.

Da runter? Mit dem Fahrrad? Nie!

Wobei das nur fünf von uns beeindruckt. Einer dagegen bleibt ganz locker. Kalle. Er lacht und sagt etwas wie: „So, da fahren wir jetzt gleich runter.“

Er hatte so etwas ja vorhergesagt. Unten in Titisee am Bahnhof, früh am Morgen, als wir da mit einer Meute von gut zwanzig anderen Bikern standen, abfahrbereit zum Mountainbike-Fahrtechnikkurs. Schnell waren die Gruppen eingeteilt, nach Schwierigkeitsgraden. Kalle Steege ist Mountainbike-Guide der Schwarzwälder Bikeschule „beitune“ und an diesem Wochenende unser Fahrtechniklehrer für die nächsten beiden Tage. Level drei, der Kurs für Fortgeschrittene. Er kündigt an:

“Erst auf den Platz, denn in den Wald!“
(Kalle Steege)
Berge rauf, Berge runter – und dabei auf wilden Singletrails Spaß haben.
Berge rauf, Berge runter – und dabei auf wilden Singletrails Spaß haben. © Patrick Kunkel

Der Platz ist ein räudiger Parkplatz am Ortsrand von Titisee, rissiger Asphalt gesäumt von Erdhügeln und Gebüsch. Ein paar Meter weiter schippern Tretboote und Touristenfähren über den spiegelglatt daliegenden Titisee, die Fußgängerzone leidet schon am frühen Morgen unter Verstopfung. Im Hintergrund dreht sich ein Riesenrad. Kalle verteilt Hütchen auf dem Boden, schleppt schwere Betonquader herbei und verwandelt den Asphalt im Handumdrehen in einen Übungsparcours.

Kalle kann das.

Kalle ist ein gut gelaunter Typ Mitte 30, der viel Zeit im Sattel seines Mountainbikes verbringt – beruflich als Tourenguide und Fahrtechniklehrer – oder einfach so, für sich alleine. Er mag den Schwarzwald, aber vor allem liebt er dessen dichtes Netz aus Singletrails. Er ist natürlich ein bisschen fahrradverrückt und fährt deshalb auch im Winter, wenn sich andere auf den Loipen tummeln, mit dem Mountainbike durch die Mittelgebirgswelt. „Klar fahre ich am liebsten Touren“, sagt er, „aber die nötige Fahrtechnik hole ich mir auf dem Übungsplatz.“ Kalle kann aus dem Stand einen Meter hoch springen und andere Kunststückchen vollführen – „doch die Zeit für Übungen muss man sich einfach nehmen.“

Stärkung am Mittag. Kalle fordert uns ganz schön!
Stärkung am Mittag. Kalle fordert uns ganz schön! © Patrick Kunkel

„Balance ist Voraussetzung, um technisch schwierige Abschnitte im Trail zu meistern“, sagt Kalle. Also balancieren wir auf unseren Rädern. „Jetzt in die Grundposition!“, ruft Kalle. Was bedeutet: Arme leicht gebeugt und locker auf den Pedalen stehend. Das Körpergewicht ist dabei gleichmäßig auf den Pedalen verteilt und der Lenker entlastet. So kreiseln wir umeinander. Wir, das sind Remmi, Jörg, Joachim, Lars und ich. Alter: 21 – 51 Jahre. Ganz unterschiedliche Typen, vom Studenten bis zum Industrieschweißer, aber alles leidenschaftliche Biker, wie wir schon in der Vorstellungsrunde festgestellt haben.

Berge rauf, Berge runter – und dabei auf wilden Singletrails Spaß haben. Das klappt bei allen. Doch irgendwo hakt es bei jedem. Der Fahrtechnikkurs soll Abhilfe schaffen. Jörg sagt: „Ich fahre oft Mountainbikerennen und wünsche mir mehr technische Sicherheit in Abfahrten. Vor allem Spitzkehren würde ich gern besser bewältigen.“ Lars findet, dass er gut Biken kann: „Bloß diese Spitzkehren! Da müssen meine Kumpels immer auf mich warten.“ Remmi hat ein ähnliches Problem: „Spitzkehren – ich würde gerne lernen, wie man hinten umsetzt und dann weiterfährt.“ Und Joachim sagt, ja, was wohl? Genau: Spitzkehren sind das Problem.

Grundposition, Aktivposition?

Ja, diese Spitzkehren. „Die sind für die meisten schwer zu bewältigen“, weiß Kalle, „denn sie stellen sich dem Biker meist in den Weg, wenn das Gelände richtig steil wird.“ Aber statt über ruppige Wurzeltreppen und enge Trails in weiten Bergen fahren wir erstmal um lila, blaue und grüne Hütchen auf dem Parkplatz. Und über Betonplatten, je zwei übereinander gestapelt: „Die Spitzkehren kommen später dran. Jetzt werden wir uns mit dem Vorderrad beschäftigen, damit wir später über Wurzeln drüberkommen“, sagt Kalle. „Viele machen das mit Kraft und reißen am Fahrrad. Wir wollen es aber mit der richtigen Technik machen. Es geht zuerst von der Grundposition tief runter in die Aktivposition. Dann noch tiefer und explosiv mit gestreckten Armen nach oben.“ Das Vorderrad, derart entlastet, lässt sich tatsächlich viel leichter über solche Hindernisse bugsieren!

Auch die Hütchenspiele bringen uns erst an unsere Grenzen – und dann doch weiter: Wir sollen Achten fahren, die Hütchen auf dem Boden sind eng gelegt; eben wie eine typisch Hochschwarzwälder Spitzkehre. Bloß das Gefälle fehlt – doch gut so. Denn anfangs schafft kaum einer die Kurve: „Die Blickführung“, erklärt Kalle, „ist besonders wichtig. Eine Acht gelingt nur, wenn man immer in die Richtung schaut, in die man fahren will. Du musst den Kopf drehen und über die kurveninnere Schulter ans Ende der Kurve schauen.“ Irgendwann schaffen es alle. Doch was ist schon ein Parkplatz in Titisee gegen einen echten Hochschwarzwälder Singletrail? Eben.

Balance ist Voraussetzung, um technisch schwierige Abschnitte im Trail zu meistern.
Balance ist Voraussetzung, um technisch schwierige Abschnitte im Trail zu meistern. © Patrick Kunkel

Zu Mittag im Biergarten am Titisee gibt es Apfelschorle, Spätzle – und von allen Seiten Heldengeschichten von Biketouren mit Stürzen und von gebrochenen Rahmen. Jetzt stehen wir am Steilhang mitten im Wald und geben offensichtlich ein interessantes Bild ab, wie wir da auf dem schmalen Weg zwischen dicken Fichtenstämmen und Heidelbeerpolstern auf unseren Bikes balancieren. Ein steinalter Schwarzwälder Wanderer mit rauchiger Stimme, der gerade mit seiner Frau von Hinterzarten aus über den Berg gestiegen kam, krächzt uns entgegen: „Jetzt bin ich aber wunderfitzig, was macht ihr denn da?“ „Na, runterfahren. Naja, eher runterfahren probieren.“ Er blinzelt uns zu, mit Schalk in den Augen: „Reschpekt“, sagt er. Und zum Abschied noch: „Viel Glück!“

Zu Fuß braucht man nicht zu bremsen!

Wir schauen uns an. Kalle schaut uns an: „Ist ganz leicht“, sagt er und erklärt die Schlüsselstellen der steilen Spitzkehre: „Hier bremst ihr besser nicht“, sagt Kalle und zeigt auf ein besonders steiles und besonders steiniges Stück: „Wenn du hier anfängst zu bremsen, kommst du ins Rutschen.“ Klingt beruhigend, so nah am Abgrund . . . „Die Blickführung ist gaaaaanz wichtig“, meint Kalle: „Blickt immer nach vorn, da wo ihr hinwollt und nicht dahin, wo ihr nicht hinwollt.“ Lars lacht nervös. Ich bin es auch. „Nehmt Euren Schokoladenfuß vor,“ sagt unser Techniktrainer, „geht in die Aktivposition und verschiebt euren Körperschwerpunkt nach hinten.Wenn ihr das Vorderrad hier rum habt, dann müsst ihr es laufen lassen. Es ist oft ein Kopfproblem“, meint Kalle, „und besonders schwer, wenn es links zehn Meter steil runtergeht.“

Laufen lassen! Kopfproblem! Doch der Berg ruft. Joachim fährt los, unter den Reifenstollen klackert das lose Gestein. Dann lässt er es laufen – und schafft die Kurve. Ganz locker sieht das aus. Ich starte. Und fahre die Kurve schön von außen an, um nach innen zu ziehen, fast wie im Bikerlehrbuch. Und natürlich den Schokoladenfuß vorn. „Nicht nach unten schauen!“, ruft Kalle.

Im nächsten Moment weiß ich, wofür so ein Schokoladenfuß noch gut sein kann beim Biken am Abgrund: Zum Absteigen. Auch Schieben kann man im Hochschwarzwald ganz hervorragend. Wenigstens ein paar Meter.