Die schweren Fahrrädern mussten die beiden damals 16-Jährigen das Höllental hoch schieben

Ein Rad-Abenteuer anno 1953 zum Titisee

Übernachten für 25 Pfennig und mit Muskelkraft betriebene Zeltlampen...
30.08.2023

von Christian Engel

Das Jahr 1953 im Schwarzwald, eine Ära, in der Abenteuer noch mit Muskelkraft und wenigen Pfennigen begannen. Gerd Schwinn nimmt uns mit auf seine Reise durch die Vergangenheit, zu einer Zeit, als ein Radabenteuer noch wahrhaftige Pionierarbeit bedeutete:

 Willkommen im Jahr 1953!

Im Dunkeln kann man weder gut aufräumen noch besonders doll seine Schlafstätte herrichten. Und an kontrolliertes Kochen muss man gar nicht erst denken. Da Gerd Schwinn und Alois Zirm aber Hunger haben und zudem noch das Zelt schlaftauglich machen wollen, kommt ihnen eines späten Abends die zündende Idee: Sie stellen eines ihrer beiden Fahrräder auf den Sattel, montieren den Dynamo ans Hinterrad und legen eine Leitung zu einem kleinen Glühbirnchen im Zelt. Und während der eine nun neben dem Rad hockt und mit der Hand an den Pedalen dreht – also Strom produziert und Licht ins Dunkel bringt – kann der andere den Gaskocher anschmeißen, eine Nudelsuppe wärmen, das Zelt richten. Willkommen im Jahr 1953!

Gerd Schwinn zeigt wie der Dynamo des Fahrrads damals als Stromgenerator für den Gaskocher diente
Gerd Schwinn zeigt wie der Dynamo des Fahrrads damals als Stromgenerator für den Gaskocher diente

Die erste große Reise

Gerd Schwinn erinnert sich gern an diese Zeit zurück: an jenen Sommer vor 70 Jahren, als er zum ersten Mal in seinem Leben eine große Reise unternimmt, mit seinem Kumpel Alois vom Odenwald über den Titisee bis an den Bodensee radelt. „Für uns war das damals wie eine Weltreise“, sagt der 86-Jährige heute. Auf diese zweiwöchige Tour nimmt uns Gerd Schwinn noch einmal mit, auf ein Abenteuer mit unzähligen Geschichten, auf eine ungewöhnliche Reise, deren Nacherzählung zugleich zu einer Reise durch die vergangenen Jahrzehnte am Titisee wird: wie man einst dort Ferien machte und welche Ansprüche man heute an einen Urlaub hat. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass nicht alles selbstverständlich ist, was man heute hat.

Der Grundstein für die Radreise wurde bereits 1952, also ein Jahr zuvor, gelegt: „Alois und ich wollen eine Radtour machen“, sagte der junge Gerd seinen Eltern. Die aber winkten ab: „Ihr seid zu jung.“ Wenn Träume allerdings ein Jahr später immer noch leben, ist der Wille riesengroß, sie auch zu erfüllen. Und so klopft Gerd Schwinn, jetzt schon 16, einen Sommer später eben noch mal an: „Na, was meint ihr diesmal?“ Und der Vater gibt das Okay. Und fünf Mark dazu.

Die Räder: schwer wie Blei. Die Stahlrahmen allein wiegen schon wie Ochsen, dazu noch vollgepackte Satteltaschen: Zelt, Spirituskocher, Töpfe, Unterhosen. Nur Regenjacken packen sie nicht ein, die gibt es damals noch nicht. Am besten soll es einfach nicht regnen. Und dann regnet es jeden zweiten Tag.

Zum Duschen ging's in den See
Zum Duschen ging's in den See
"Nach dem Höllental kam der Himmel-der Titisee"
(Gerd Schwinn)

Von Hessen an den Titisee

Vom Schwarzwald, sagt Gerd Schwinn, habe er schon als Kind geschwärmt. In Prospekten hatte er ihn entdeckt, Postkarten und andere Bildmotive gesehen. Freiburg! Titisee! Feldberg! Und an den Bodensee wollte er auch unbedingt. Also ab in den Süden! In Pfaffen-Beerfurth im hessischen Odenwald geht die Tour Mitte Juli los. Sie kommen an Bruchsal und an Ettlingen vorbei, verbringen eine Nacht in Freiburg, rollen dann weiter Richtung Titisee. Das Höllental hinauf müssen sie schieben, aber dann sollten sich alle Mühen gelohnt haben: „Nach dem Höllental kam der Himmel – der Titisee“, erinnert sich Gerd Schwinn.

Der Titisee: So schön wie auf einer Postkarte - damals wie heute
Der Titisee: So schön wie auf einer Postkarte - damals wie heute
"Bei uns gab’s eine einzige Toilette, und zum Duschen ging‘s in den See.“
(Gerd Schwinn)

70 Jahre später:

Heute, ist er erneut an den Titisee gereist (diesmal mit dem Auto). Erstens ist er „sowieso gern zum Urlaub hier“, und zweitens wollte er das Jubiläum seiner Radreise nutzen, um jenen Ort zu besuchen, an dem er und Alois „vier bezaubernde Tage“ verbracht hatten: den Campingplatz Weiherhof. „Hat sich ja schon einiges geändert in den letzten 70 Jahren“, sagt Gerd Schwinn. Als erstes fallen ihm die sanitären Anlagen auf: „Bei uns gab’s eine einzige Toilette, und zum Duschen ging‘s in den See.“ Das Rezeptionsgebäude bestand damals aus einem Tisch und einem Stuhl, bei Schlechtwetter wurde noch ein Schirm aufgestellt. Und als Gerd Schwinn 1953 hier war, befanden sich nicht weitere 480 Gäste auf dem Campingplatz, wie es heute zur Hauptsaison bisweilen der Fall ist, sondern 14 oder 15. Vielleicht 16.

Annette Schmidt-Kilchling Leiterin des Campingplatzes Weiherhof berichtet vom veränderten Campingverhalten
Annette Schmidt-Kilchling Leiterin des Campingplatzes Weiherhof berichtet vom veränderten Campingverhalten

Camping damals und heute

Annette Schmidt-Kilchling kann von der Entwicklung des Campingplatzes in den vergangenen Jahrzehnten am besten berichten, schließlich leitet sie ihn schon seit 1982, nachdem sie ihn von ihren Eltern übernommen hat (die ihn bereits von ihren Eltern übernommen hatten). Die Urlauber seien früher aus der nächsten Nähe gekommen, sagt sie. Odenwald war da schon eine Seltenheit. Heute kämen Gäste gar aus Indien, aus Australien, aus Kanada. An spanische, italienische und französische Autokennzeichen hat man sich am Titisee schon länger gewöhnt. Auch das Campingverhalten hat sich verändert: Manche Camper bringen in ihren Wohnmobilen den halben Haushalt mit. Was sich auch auf den Stromverbrauch auswirkt: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten etliche Male die Stromversorgung ausbauen müssen“, sagt Annette Schmidt-Kilchling. „Manche nehmen Waschmaschinen und Trockner im Wohnmobil mit.“

Boot fahren auf dem Titisee - einiges hat sich geändert, der Zauber des Sees bleibt gleich
Boot fahren auf dem Titisee - einiges hat sich geändert, der Zauber des Sees bleibt gleich
"Wir haben uns in jedem Moment zu helfen gewusst"
(Gerd Schwinn)

Ohne Gangschaltung auf den Feldberg

Und Smartphones aufladen müssen eh alle. Gerd Schwinn muss schmunzeln, wenn er Kinder und Jugendliche sieht, die vor dem Zelt hocken und auf ihren Handys daddeln. „Also wir haben damals Karten gespielt, waren baden und haben geredet.“ Und auf den Feldberg sind sie hinauf – mit ihren ochsenschweren Rädern. Natürlich wieder viel geschoben, Gänge gab’s keine. Und wenn es geregnet hat (was es häufig tat), schlüpften sie in Dreieckszeltbahnen, die sie wie Ponchos über sich legten. „Wir haben uns in jedem Moment zu helfen gewusst.“

Die Fahrten auf dem Rad gehen 1953 in der Regel entlang der Bundesstraße, ein Radwegenetz wie heute existiert noch nicht. Und auch die Kommunikation mit den Eltern ist damals eine andere. Die Daheimgebliebenen wollen natürlich schon wissen, wie es den radelnden Abenteurern ergeht. Also schreibt Gerd Schwinn regelmäßig Briefe und Postkarten. Manchmal schickt er auch die vollen Filmrollen als Warensendung nach Hause. Die kosten ein paar Pfennig weniger als das übliche Briefporto von zehn Pfenning, und dennoch kann man – wenn auch nicht ganz erlaubterweise – ein kleines Briefchen mit in die Rolle stecken.

Auf dem Feldberg: damals und heute
Auf dem Feldberg: damals und heute

Ein Stück Seife für 65 Pfennig wird zum Zankapfel

Womit wir kurz beim Geld bleiben: 25 Pfennig kostet die Übernachtung auf dem Campingplatz; ein einziges Mal kriegen sich die beiden Urlauber in die Haare, weil Gerd Schwinn ein Stück Seife für aus Alois‘ Sicht überteuerte 65 Pfennig kauft. „Aber was hätte ich machen sollen, damals gab es keine günstigeren Alternativen wie heute in den Drogerien!“, rechtfertigt sich Schwinn heute noch. Die gesamte Reise kostet pro Nase rund 60 Mark; zwischendurch schicken die Eltern postlagernd an einen vorher vereinbarten Campingplatz oder an eine Jugendherberge noch mal einen Fünfer – Offline-Banking nennt man das vermutlich.

Am Ende der Reise steht Gerd Schwinn nach zwei Wochen fünf Kilo leichter, aber viele Erfahrungen schwerer wieder daheim auf der Matte. Und er schwärmt und erzählt: vom Viadukt im Höllental, von der Bootsfahrt auf dem Titisee, von der rasanten Abfahrt vom Feldberg. Noch heute sieht er sich die Schwarzweißfotos von der Reise gerne an, gerät dabei stets ins Träumen. Und dann hockt er wieder auf dem steinharten Sattel, sitzt mit Alois ums Feuer, dreht an Pedalen, um Strom zu erzeugen – und erinnert sich daran, wie es sich anfühlt, so ein Abenteuer.

Alle historischen Bilder wurden von Gerd Schwinn zur Verfügung gestellt.

Das Höllental: heute genauso himmlisch wie vor 70 Jahren
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