„Wenn ihr nit heimgehn, holt euch der Betzitglunki“

Unterwegs im Geisterwald

Spannende Einblicke vor und hinter die Kulissen dieser traditionsreichen Veranstaltung
07.03.2016

von Stella Schewe-Bohnert und Freya Pietsch

Lochhexen, Betzitglunki oder Plattewieble – diese mythischen Figuren sind untrennbar mit der Geschichte des kleinen Ortes St. Märgen im Hochschwarzwald verbunden. Jeden Sommer locken sie Hunderte von Besuchern in den schaurigen Pfisterwald, wo sie wieder lebendig werden... 

„Genießen Sie die letzten Blicke außerhalb vom Wald“, ruft Manfred Hermann den rund 100 Menschen zu, die ihn bei der Geisterwanderung begleiten. „Ob alle wieder zurückkommen? Wir wissen es nicht.“

Kein Zurück mehr: die Lochhexen und Betziglunki sind da

Noch lachen wir, doch das Lachen vergeht uns schnell: Kaum sind wir bei einsetzender Dämmerung ein Stück in den Wald hineingelaufen, ertönen gellende Schreie und Gestalten mit grünen Umhängen und fratzenhaften Masken springen hinter den Bäumen hervor: Es sind „Betziglunki“, auf hochdeutsch „Bettzeit-Glunki“, die früher darauf achteten, dass die Kinder abends nach dem Angelusläuten nach Hause und ins Bett gingen. „Wenn ihr nit heimgehn, holt euch der Betzitglunki“, hieß es im Dorf. Wie viele Unartige er erwischt habe, sei nicht bekannt, erzählt Manfred Hermann und droht, während er uns immer tiefer in Wald hineinführt: „Jetzt gibt es kein Zurück mehr!“

„Genießen Sie die letzten Blicke außerhalb vom Wald“
„Genießen Sie die letzten Blicke außerhalb vom Wald“ © Michael Spiegelhalter

Kein Zurück gibt es auch für Roland Kern, der sich zur gleichen Zeit in sicherer Entfernung von der Wandergruppe, mit der Larve unter dem Arm und als Lochhexe verkleidet, ein Plätzchen im Dickicht sucht. „Wo man gut rausrennen kann, ohne zu stolpern.“ Das käme natürlich nicht so gut, wenn er die Geisterwanderer erschrecken möchte. Fünf bis acht weitere Hexenkollegen haben sich entlang des Weges schon positioniert. Hier im Wald ist Kern „relaxed“. Wieso auch nicht: „Mit der Larve ist man inkognito unterwegs und hat Narrenfreiheit.“ Seit über zehn Jahren machen sie das bereits:

“Wir machen das für St. Märgen, fürs Gemeinschaftsgefühl. Die Leute geben einem so viel zurück. Das motiviert.“
(Roland Kern)

Motiviert? Uns erschreckt das Gebrüll der Lochhexen – die einst in so beschaulichen Gegenden wie dem Wolfsloch oder dem Mörderloch hausten – fast zu Tode. „Du kannst ja heute Nacht bei Oma schlafen“, tröstet ein Urlauber aus Münster seinen Enkel Finn, doch der gibt sich unerschrocken: „Wenn mir die Hexe zu nahe kommt, beiß ich sie einfach in die Hand. Oder ich pups mal kräftig!“ Na, wenn sie da mal nicht Reißaus nimmt... Doch der nächste Schreck folgt sogleich: Aus dem dunklen Wald ist leises Meckern zu hören, nur schemenhaft erkennen wir einen Jäger mit seinem Gewehr über der Schulter.

Uns erschreckt das Gebrüll der Lochhexen
Uns erschreckt das Gebrüll der Lochhexen © Michael Spiegelhalter

Obacht vor dem Geißenmeckeri und dem kopflosen Reiter

Der Jäger ist Raphael Schwer. Eigentlich ist er ein ruhiger Typ, laut Bruddeln und Schimpfen und das auch noch vor Zuschauern ist nicht Sache des 20-Jährigen. Aber als Geißenmeckeri muss er das. „Ich wurde vergangenes Jahr gefragt und habe mit dem Neinsagen zu lange gezögert, damit hatte ich die Rolle“, erzählt er uns. „In der Zwischenzeit macht mir das Ganze aber Spaß.“ Nicht zuletzt, weil er damit seinen Ort, St. Märgen, unterstützen kann. Und weil er danach immer so nette Rückmeldungen bekommt, zum Beispiel von Kindern: „Die fragen, ob das Gewehr auch wirklich schießt. Das finde ich lustig.“ 

Aus dem dunklen Wald ist leises Meckern zu hören, nur schemenhaft erkennen wir einen Jäger mit seinem Gewehr über der Schulter.
Aus dem dunklen Wald ist leises Meckern zu hören, nur schemenhaft erkennen wir einen Jäger mit seinem Gewehr über der Schulter. © Michael Spiegelhalter

Kurz darauf kann von „lustig“ keine Rede mehr sein: Im Galopp preschen vier Reiter an uns vorbei, einer davon trägt seinen Kopf unterm Arm. Das war der Rossknecht, dem einst die vom brutalen Bauern geschundenen Pferde so Leid taten, dass er deswegen mit dem Bauern in Streit geriet und von ihm erschlagen wurde. Der Bauer kam vor Gericht ungestraft davon, seither treibt es den „kopflosen Reiter“ im Pfisterwald um. Auf den Schreck gibt es ein Gläschen Himbeerlikör von einem der St. Märgener Bauern – köstlich!

Im Galopp preschen vier Reiter an uns vorbei, einer davon trägt seinen Kopf unterm Arm.
Im Galopp preschen vier Reiter an uns vorbei, einer davon trägt seinen Kopf unterm Arm. © Michael Spiegelhalter

Das arme Plattenwieble und der traurige Knecht Haberstroh

Während sich die Teilnehmer der Geisterwanderung noch Mut antrinken, zieht sich hinter einer Wegbiegung Elisabeth Ruf die Perücke über den Kopf und schmiert sich schwarze Fasnachts-Schminke ins Gesicht. Jetzt noch den Stumpen in der Pfeife anzünden, dann ist das Plattenwieble fertig. Das schummerige Licht der kleinen Laterne wirft dunkle Schatten in ihr Gesicht. „Wenn ich meine Position einnehme, kümmert mich das Drumherum nicht mehr“, erzählt Ruf. Sie geht dann ganz in ihrer Rolle auf. Jetzt sind aus der Ferne Stimmen zu hören. Schnell greift sie nach ihrer kleinen Axt und macht sich als Plattenwieble mit Jammern und Klagen an ihre Arbeit.

„Des isch doch ä Elend“, begrüßt sie uns. Das Plattenwieble, alias Josepha Schuler, lebte Anfang des vergangenen Jahrhunderts auf der „Platte“, der Hochebene bei St. Peter, und gehört zu den Hochschwarzwälder Figuren schlechthin. Nach einer Tabak- und Schnapsspende von Manfred Hermann erzählt sie uns von ihrem Leben, das es nur selten gut mit ihr meinte: von ihrem Kind, das sie unehelich bekam und das viel zu früh starb, von der vielen, mühseligen Arbeit... „Ich Armi!“

Schnell greift sie nach ihrer kleinen Axt und macht sich als Plattenwieble mit Jammern und Klagen an ihre Arbeit.
Schnell greift sie nach ihrer kleinen Axt und macht sich als Plattenwieble mit Jammern und Klagen an ihre Arbeit. © Michael Spiegelhalter

Gut versteckt, im Schutz der Rindenhütte sitzen derweil Helmut Hermann und Harald Herrmann von der St. Märgener Trachtenkapelle und plaudern. „Wir fachsimpeln oder erzählen uns Witze“, so der 61-jährige Helmut Hermann. Vor der ersten Wanderung im Jahr trifft er sich mit seinem Musiker-Kollegen zu Hause, um die wehleidigen Melodien auf ihren Flügelhörnern gemeinsam zu üben. Doch jetzt ist Schluss mit Plaudern: Durch die Ritzen der Hütte ist die Wandergruppe zu sehen. Die beiden Männer greifen zu ihren Instrumenten, nicken sich zu – dann dringt das Klagen der Musik durch die Dunkelheit des Waldes.

Mit ihrer traurigen Melodie erinnern sie an den Knecht Lorenz Haberstroh, der sich in die Tochter des St. Märgener Bürgermeisters verliebt hatte. Dieser fand, der Knecht sei keine gute Partie, und sperrte seine Marie monatelang in ihre Kammer. Doch Haberstroh ließ sich nicht abwimmeln und spielte jeden Abend auf dem Horn für seine Liebste – so lange, bis der Bürgermeister endlich nachgab und die beiden doch noch ein glückliches Paar werden konnten.

Ein Happy End für lau

Mit diesem Happy End endet auch die Wanderung: Auf einer Lichtung warten ein Feuer und heiße Suppe mit Brot auf uns, gespendet von Bauern, Gasthäusern, Metzgereien und Bäckereien des Ortes. Hier treffen sich alle, die an der Geisterwanderung beteiligt waren: die Mitglieder vom Reitverein, der beiden Fasnetsvereine und der Trachtenkapelle. Dieser Zusammenhalt und das ehrenamtliche Engagement sind für Waltraud Saier von der Tourist-Information das Besondere an der Geisterwanderung:

“Das ist unser Highlight“
(Waltraud Saier)

Ein Highlight, für das die Gemeinde übrigens bewusst kein Geld verlangt. Stattdessen können die Teilnehmer am Ende einen typischen Hochschwarzwälder Strohschuh mit ihren Spenden füttern – was Lydie aus Zürich gerne tut: „Die Schwarzwälder sind ja sehr ideenreich, die machen halt ebbis Tollis“, sagt sie, bevor sie sich – gestärkt durch Speckbrot und mit der warmen Suppe im Bauch – auf den Weg zurück ins von Sternen beschienene St. Märgen macht.

Gut zu wissen

Die aktuellen Termine der Geisterwanderung finden Sie stets aktuell in unserem Veranstaltungskalender.