Erinnerungen an den allerersten Rucksacklauf

Zum Heulen schön
01.01.1970

Freudentränen – wann sind sie dir bloß das letzte Mal über die Backen gelaufen? Oder sind womöglich die Zeiten nicht mehr danach?

Mehr als mir lieb und recht war, verbrachte ich die Tage vor der Glotze im vergangenen, absonderlichen Winter. Denn mal hatte es zu viel, dann wieder zu wenig Schnee für Außenaktivitäten, von den Corona-Einschränkungen ganz zu schweigen. Wintersportübertragungen müssen da allzu oft als Ersatzbefriedigung herhalten – zumal es dabei bisweilen dramatisch, ja sogar hochemotional zugeht: Denn nach besonderen Leistungen, überraschenden Erfolgen und Medaillengewinnen bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen kommt es gar nicht so selten vor, dass waghalsige Abfahrer, aber auch tollkühne Bobpiloten und Skispringer vor laufender Kamera ein paar Tränen verdrücken müssen.
Im vergangenen Februar, bei der Alpinen Ski-WM, hatte angesichts der unerwarteten Silbermedaille des Deutschen Romed Baumann sogar Co-Kommentator und Ex-Slalomkünstler Felix Neureuther im Studio feuchte Augen vor Rührung und Begeisterung bekommen. „Wo sonst noch außer im Sport“, so seine Schlussbemerkung, „dürfen die Emotionen derart durchgehen mit einem?“

Rucksacklauf

Der Rucksacklauf ist seit 1978 das Langlauf-Event im Schwarzwald. © Wolfgang Hockenjos

Im heimischen Fernsehsessel war eben dies der Moment, in dem sich auch mir die Frage aufdrängte: Wann zuletzt sind eigentlich dir am helllichten Tag die Freudentränen geflossen – und das auch noch beim Sport? Doch tatsächlich, da taucht aus dem Nebel des Langzeitgedächtnisses urplötzlich wieder ein Erinnerungsfetzen auf, noch dazu gespickt mit erstaunlichen Details: Knackig kalter Pulverschnee im Winter anno 1978 beim allerersten Rucksacklauf über die 100 Kilometer auf dem Fernskiwanderweg von Schonach nach Multen am Belchen! Nach einer kräftezehrenden Schinderei quer durch den mittleren und südlichen Schwarzwald, mit Überquerung des Brends, der Fern- und der Weißtannenhöhe, des Grüblesattels auf dem Feldberg, mit Passieren des Notschreis, dann des Trubelsmattkopfs, schließlich nach ratternder Abfahrt zum Wiedener Eck hinunter, ein letzter, nimmer enden wollender Anstieg zur Hohtann hinauf. Worauf nach Kilometer 95 endlich, endlich die finale Schlussabfahrt auf die erschöpften Läufer wartet hinab in Richtung Ziel.

"Es schießen mir gänzlich unverhofft Tränen in die Augen, Tränen des Glücks und des Stolzes über die erbrachte Leistung"
(Wolf Hockenjos)

Und genau da, nach einem allerletzten kurzen Gegenanstieg durch Nadelwald passiert es: Plötzlich taucht rechts unterhalb der Laufstrecke das Multen-Wirtshaus auf, winkt das Ziel, höre ich schon den Sprecher am Mikrofon – jetzt bitte nur ein sturzfreier Rechtsschwung noch und ich werde es geschafft haben! Und exakt da ist es offenbar um meine Fassung geschehen: Es schießen mir gänzlich unverhofft Tränen in die Augen, Tränen des Glücks und des Stolzes über die erbrachte Leistung – dazu aber auch schon im Vollbewusstsein einer gelungenen Premiere!

Wolfgang Hockenjos

Autor, Forstwirtschaftler und passionierter Langläufer Wolf Hockenjos © Wolfgang Hockenjos

Denn ich war in doppelter Mission gefordert an diesem Februartag: als Teilnehmer wie als Veranstalter des Rucksacklaufs, Letzteres als Vorsitzender der 1974 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Skiwanderwege Schwarzwald e.V. In der Nacht vor dem Lauf hatte ich kaum ein Auge zugetan bei all den auf einer hundert Kilometer langen winterlichen Wettkampfstrecke lauernden Risiken und Unwägbarkeiten. Dann endlich, nach der Anreise in aller Herrgottsfrühe, nach dem Skiwachsen und der Rucksackkontrolle, um 7 Uhr mit dem Glockenschlag der Schonacher Kirchturmuhr der Massenstart in die Morgendämmerung hinaus. Doch jetzt, am fortgeschrittenen Nachmittag und in Sichtweite des Ziels, war im Rausch der Glückshormone mit einem Mal auch der lang aufgestaute Druck von mir gewichen.

"Insgesamt 80 Läufer hatten damals das Ziel erreicht, die letzten kurz vor Einbruch der Dunkelheit."
(Wolf Hockenjos)

Wie sich bei der Premiere zeigte, war gottlob niemand von der Strecke abgekommen oder gar aus Erschöpfung liegen geblieben: Insgesamt 80 Läufer hatten damals das Ziel erreicht, die letzten kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Sieger und Gewinner des Wäldercups 1978 war der damals 40-jährige Olympiasieger von Squaw Valley, Georg Thoma aus Hinterzarten, mit sattem Vorsprung vor dem Zweitplazierten, dem Verfasser. Bis heute hält Thoma mit 5:51 Stunden auch die Streckenrekordzeit.

Soviel Nostalgie im Fernsehsessel muss erlaubt sein, wo doch schon die nächsten TV-Übertragungen warten, ob bei der Vierschanzentournee der Skispringer oder den anstehenden Olympischen Winterspielen. Und auch der Rucksacklauf findet in diesem Winter wieder statt. Und sorgt womöglich bei dem ein oder anderen erschöpften Läufer für feuchte Augen bei der Zieleinfahrt.

Mehr Informationen

  • Der Autor: Wolf Hockenjos (Jahrgang 1940) stammt aus St. Märgen und hat als Forstwissenschaftler und langjähriger Forstamtsleiter mehrere Bücher über die heimischen Wälder herausgegeben. Als passionierter Langläufer hat er in den 1970er-Jahren unter anderem den Fernskiwanderweg Schonach-Belchen, den Rucksacklauf und die Thurnerspur mit aus der Taufe gehoben.
  • Infos und Anmeldung

    Rucksacklauf 2022 von Schonach zum Belchen am 12. Februar 2022