Das Heimweh der Rheinländer nach dem Schwarzwald
„Heute wird jeschlachtet!“, ruft Helga Moog gut gelaunt im rheinischen Singsang ins Telefon, während sie mit ihrer Tochter und dem Schwiegersohn bei einem ausgiebigen Frühstück im Gasthof Schneckenhof in Schollach sitzt.
Seit vielen Jahren kennt sie den Ortsvorsteher, dessen Hof nur etwa einen Kilometer entfernt ist, und deshalb weiß sie, dass er heute im Schlachthaus ist, welches wiederum nicht einmal zwei Kilometer weiter steht. „Es ist wie immer erholsam und schön“, erzählt sie ihrem Sohn im Rheinland, während ihr Blick auf Wiesen, Kühe, Tannen und ein Mühlenhäuschen geht, das an den ersten Skilift der Welt erinnert, der vor über 100 Jahren für Gäste des Schneckenhofs errichtet wurde. Helga Moog beendet das Telefonat mit dem Versprechen, Wurst vom Schlachten mitzubringen.
400 Kilometer ins Unbekannte
Wie viele Wurstbüchsen sie schon mit nach Hause mitgenommen hat, weiß die lebhafte 82-Jährige nicht. Sie will sich auch nicht festlegen, ob sie 20 oder 30 Jahre im gleichen Zimmer übernachtet und wie viele Silvester sie im Schneckenhof gefeiert hat.
Aber Helga Moog kann sich noch gut an das erste Mal erinnern. 1972 ist sie die gut 400 Kilometer von ihrem Wohnort in der Nähe von Bonn in den 200 Einwohner zählenden Ortsteil von Eisenbach gefahren, mit der Freiwilligen Feuerwehr, der ihr mittlerweile verstorbene Mann angehörte. „Es war zu Christi Himmelfahrt.“, erzählt sie
Wohl gefühlt hat sie sich sofort an dem Ort im malerischen Schollachtal ein paar Kilometer nordöstlich vom Titisee. „Die Ruhe und die frische Luft, herrlich, nä!?“ Bei Elfriede Winterhalder, der Schwester des Wirts vom Schneckenhof, die die Gäste bedient und längst zur Freundin geworden ist, holt sie sich Bestätigung im Heimatidiom: „Nä, Elfriede?“.
Kamillentee für die besonderen Gäste
Die Frauen schwelgen in Erinnerungen, erzählen von tollen Stunden und Erlebnissen, lachen wie aufgekratzte Schulmädchen. „Was hän wir Volkslieder gsunge un sin durchs Huus zoge!“ „Ach Jott, dat waa vielleicht en Silvester!“ „I muss hit no lache!“
Zu einem erholsamen Aufenthalt gehört für Helga Moog unbedingt „das Familiäre und Freundschaftliche“ dazu. Steht ihr einmal nicht der Sinn nach Forelle, Rindfleisch oder Jägerschnitzel von der Karte, bittet sie Elfriede, eine kalte Platte zu machen. „Anderswo geht das gar nicht“, ist sie überzeugt. Oder einmal, erzählt sie, war ihr „tot schlecht“ und Elfriede hat ihr Kamillentee aufs Zimmer gebracht. „Wo krieg ich das denn?“ Im Schneckenhof, in dem die Einzel- und Doppelzimmer mit alten Möbeln ausgestattet sind und die Gäste sich Duschen und Toiletten auf dem Gang teilen, kriegt sie das.
Mit am Frühstückstisch sitzen die Tochter von Helga Moog, Heike Hümmer, 50 Jahre alt und Industriekauffrau, und deren Mann, 51, ein Werkzeugmacher. Als 7-Jährige war Heike Hümmer das erste Mal im Schneckenhof. „Die viele Natur hat mir gefallen“, erzählt sie. „Ich war nur draußen am herum laufen, spielen und frei bewegen.“ Unzählige Male hat sie ihre Ferien im Schollachtal verbracht. Und als sie geheiratet hat und eine Tochter bekam, hieß das Urlaubsziel oft weiterhin Schwarzwald. „Jetzt studiert unsere Tochter“, sagt sie, „sonst wäre sie dabei."
Keine Gäste, sondern Familie
Schnell zählt Heike Hümmer auf, was sie am liebsten im Schwarzwald machen: „Ausschlafen, in Ruhe frühstücken, die Natur genießen, Ausflüge machen.“ Zum Titisee, an den Kirnbergsee bei Bräunlingen, nach Donaueschingen und Hinterzarten, ins Glottertal und Höllental, nach Freiburg. Und es werden auch all die Freunde in und um Schollach herum besucht, von denen einige, wie auch Elfriede Winterhalder vom Schneckenhof, sie schon mehrmals im Rheinland besucht haben. „Wenn wir eine gewisse Zeit nicht im Schwarzwald waren“, sagt Heike Hümmer, „ist das Bedürfnis da, wieder hinzufahren“. Ihre Mutter nickt heftig und betont:
Nach so vielen Jahrzehnten im Schwarzwald hat dieser längst Einzug gehalten in die eigenen vier Wände. Bei Helga Moog zu Hause steht, tickt und leuchtet der Schwarzwald: vor dem Schaukelstuhl steht ein Paar Strohschuhe, einige Schilderuhren und eine Standuhr sagen ihr, was die Stunde geschlagen hat, eine Lampe, die der Vater eines Schollacher Freundes geschmiedet hat, leuchtet ihr heim.
Helga Moog hofft, dass sie noch oft nach Schollach kommen kann – und der Schneckenhof so bleibt, wie er ist. „Wenn hier alles umgekrempelt werden würde“, sagt sie, „und ohne Elfriede wäre es nicht mehr die Schnecke“. Dann setzt sie, fast feierlich, zu einem Schlusswort an:
Ihre Tochter und der Schwiegersohn kennen das Gefühl. Sie nicken und lachen.